Tour d'Afrique
12.000 Kilometer Radrennen von Kairo nach Kapstadt
1. Tag, 1. Etappe
15. Januar: Kairo – Desert Camp. 135 Kilometer
Der Wind pfeift eiskalt über das Plateau. Alles, was ich in meinem Rucksack hatte, trage ich inzwischen am Körper. Und friere trotzdem wie ein Schneider. Wärme mich notdürftig am lauwarmen Kaffee und stopfe kleine Küchlein in mich rein. Während vorne irgend jemand langatmig von der „Faszination Afrika“ und dem „größten Abenteuer des Lebens“ faselt. Im Hintergrund die Pyramiden von Gizeh. Viel kleiner, als ich gedacht habe, und irgendwie surreal.
Und mir sowieso egal. Ich friere, und das Warten nervt. Soll das etwa Afrika sein? Keine 10 Grad hat es in Kairo! Der graumelierte Himmel droht mit Regen. Nicht auch das noch! Bibbernd rutsche ich auf meinem Plastikschemel umher und hoffe, dass dieser offizielle Kram bald vorbei ist und es endlich los geht. Das „größte Abenteuer des Lebens“. Die Tour d’Afrique, das längste Radrennen der Welt. Fast 12.000 Kilometer von Kairo bis nach Kapstadt. Durch zehn Länder und auf 94 Tagesetappen mit durchschnittlich 123 Kilometern. Ein viermonatiger Dauerkampf gegen die Uhr.
Endlich findet der Monolog ein Ende, rotten wir uns unter einer großen Fahne zum offiziellen Gruppenfoto zusammen. 63 Radjunkies aus allen Winkeln der Welt. 13 Frauen, 50 Männer. Der Jüngste ist kaum 20, der Älteste 65. Alle sind voller Erwartung und Respekt. Niemand hat auch nur eine Ahnung davon, was auf uns zukommen wird. Auf den Einzelnen, auf die Gruppe. Vier Monate lang werden wir als Gemeinschaft ums Durchkommen kämpfen und als Konkurrenten um Platzierungen duellieren. „Dies ist nicht nur ein großes Abenteuer und eine lange Radfahrt, sondern vor allem ein Sozialexperiment“, haben uns die Veranstalter gestern Abend gewarnt. „Ihr braucht Euch untereinander. Also versteht Euch!“
Flankiert von einer Polizeieskorte geht es schließlich los. Ein letztes Tschüß an die Sphinx, und schon tauchen wir ein in den Moloch Kairo, der für die Tour d’Afrique keinen Moment den Atem anhält. Über die rappelvolle Stadtautobahn schaufeln wir uns in mäßigem Tempo und als geschlossenes Peloton zur Ausfallstraße in Richtung Rotes Meer. Immer wieder kommt unser Tross zum Stillstand, müssen wir wegen einer Reifenpanne warten oder Nachzügler aufschließen lassen. Nach gut anderthalb Stunden ist Kairos Stadtgrenze erreicht, kommt das erlösende Zeichen. Der Konvoi ist aufgelöst, jeder darf nach seiner Fasson losradeln.
Sofort wird es hektisch, jagen die ersten Fahrer in einem Affenzahn davon. Auch meine deutschen Mitstreiter Dennis und Horst hat es erwischt. Eigentlich hatten wir uns geeinigt, es an den ersten Tagen langsam angehen zu lassen und gemeinsam im Grundlagenbereich zu kurbeln. Nun gucken sie mich mit Feuer in den Augen an, glühen vor Jagdfieber. „Los, komm, hinterher“, feixt Horst, während Dennis schon auf und davon ist. „Fahrt los“, entgegne ich. „Ich suche erst mein Tempo und komm dann hinterher.“ Ich habe vier Monate Zeit. Da muss ich mich nicht schon am ersten Tag hetzen.
Und dann bin ich allein. Irgendwo in Nordägypten. 100 Kilometer von unserem Tagesziel entfernt. Das Abenteuer hat begonnen.
Meine Anmeldung zur Tour d’Afrique war sechs Monate zuvor rausgegangen. Mit aufgeregtem, aber auch gespaltenem Herzen. Eigentlich hatte ich im Herbst 2011 am Radrennen Paris – Dakar teilnehmen wollen. Der Plan war perfekt gewesen. Anfang November sollten wir nach 70 Radtagen in Dakar eintreffen, von wo aus ich alleine entlang der afrikanischen Westküste bis nach Gabun weiterradeln wollte. Dort begann im Januar 2012 die Afrikameisterschaft im Fußball. Das war mein Ziel.
Doch im Mai 2010 wurde ich brutal aus allen Träumen gerissen. Wegen der unsicheren Situation in Mauretanien war Paris – Dakar abgesagt worden. Früh genug zwar für den Veranstalter, doch zu spät für mich, denn ich steckte längst im Abenteuermodus. Hatte alles verschlungen, was es über Paris – Dakar zu verschlingen gibt. Hatte stundenlang über den Landkarten Westafrikas gebrütet und meine Strecke nach Gabun ausgetüftelt. Konnte es kaum abwarten, endlich loszustarten. Und war zugleich erleichtert, dass es noch über ein Jahr hin war bis zum Start. Genügend Zeit, meinen Körper auf das Abenteuer vorzubereiten und daheim die entsprechenden Vorkehrungen zu treffen.
Nach der Absage kam die Leere. Stundenlang wühlte ich mich durchs Internet. Immer auf der Suche nach einer Alternative. Amerika-Umrundung? Nicht dasselbe. Südamerika-Vuelta? Ohne jegliche Spanisch-Kenntnisse sicherlich kein Spaß. Von Dakar nach Timbuktu? Klang ganz gut, aber räumlich irgendwie zu übersichtlich. Und dann stieß ich auf die Tour d’Afrique. Ein Megaabenteuer. Die Videos auf YouTube zeigten völlig verdreckte Mountainbiker, die sich über rutschige Pisten quälten und vor Erschöpfung kaum noch sprechen konnten. Und deren Augen dennoch vor Glück strahlten. Ich bin kein Mountainbiker. Ich liebe das Gefühl, mit dünnen 23er Slicks über glatten Asphalt zu schweben. So, wie wir es bei Paris – Dakar gehabt hätten. Die Tour d’Afrique war anders. Die Tour d’Afrique brauchte keine Schönwetterfahrer wie mich. Sie brauchte Abenteurer.
Sie war nichts für mich.
Doch sie ließ mich nicht los. Je häufiger ich die Videos sah, desto mehr gefiel sie mir. Das war wirklich ein Abenteuer! Auf schmalen Trails durch den Busch. Wortwörtlich. Und dann war da ja noch dieses Glück in den Augen der Fahrer. Denen die Freude in jeder Faser ihrer Gesichter anzusehen waren. Die aus vollem Hals loslachten, wenn sie in den Dreck fielen. Die ihr Abenteuer wirklich genossen. Die ich um ihre Erfahrung beneidete.
Zwei Drittel der 12.000 Kilometer seien asphaltiert, ein Drittel würde „off-road“ gehen, informierte mich die Website des Veranstalters. 4.000 Kilometer off-road – das klang plötzlich überschaubar. Irgendwann schnürte ich einen fetten Noppenreifen auf mein Cross-Rad, das zumeist eher stiefmütterlich behandelt neben meinem Straßenrenner auf seine seltenen Einsätze wartete, und suchte in der südniedersächsischen Schichtstufenlandschaft das Abenteuer. Trieb mich dürre Waldpfade hoch, raste über ausgelutschte Feldwege wieder hinunter. Kam mit hochrotem Kopf und völlig verdreckt nach Hause. Und war glücklich.
Ende Juni war ich soweit. Hatte alle Bedenken über Bord geworfen und wollte mich dem Abenteuer stellen. Der Zufall und das Glück waren mir zu Hilfe gekommen. Ein unerwartet hereinflatternder Scheck hatte exakt jene Summe getragen, die für die Anmeldung zur Tour d’Afrique 2011 notwendig war. Damit war das größte Problem aus der Welt geräumt und ich konnte in den Abenteuermodus zurückkehren. Nun allerdings deutlich mehr unter Zeitdruck, denn es waren nur noch sechs Monate bis zum Start in Kairo.
Schon die ersten Ansätze, einen Vorbereitungsplan zu erstellen, ließen eine Herkulesaufgabe erahnen. Zunächst musste ich körperlich fit werden, was angesichts des Starttermins am 15. Januar nicht ganz einfach war. Wie sollte ich im heranbrechenden Winter Grundlage trainieren? Die Frage, mit welchem Rad ich fahren würde, war hingegen rasch geklärt. Abgesehen vom schmalen Geldbeutel, der die Anschaffung eines Mountainbikes ohnehin verhindert hätte, setzte sich der Roadbiker in mir durch und plädierte für den Crosser, der ja praktischerweise reisefertig in der Garage stand. Was die Ausrüstung betraf, war ich gelassen. Als leidenschaftlicher Camper bin ich es gewohnt, mit kleinem Gepäck zu reisen und Ausrüstungsgegenstände auf ihre multiple Verwendungsfähigkeit zu prüfen.
Fortan saß ich bei jeder Gelegenheit im Sattel und pedalte Grundlagenkilometer ab. Normalerweise komme ich auf kaum 6.000 Jahreskilometer, bewege mich im Bereich des Genussradelns und schaffe es höchstens drei bis viermal im Jahr, über 100 Kilometer am Stück zu fahren. Angesichts von durchschnittlich 123 Kilometern, die mir in Afrika täglich bevorstanden, war also Langstrecke angesagt. Nicht so einfach im normalen Alltag. Mein erster Großausflug ging nach Hamburg und führte mich schon am ersten Tag an die Grenze meines Leistungsvermögens. 166 Kilometer zeigte der Bordcomputer, als ich irgendwo kurz hinter Celle todmüde vom Rad fiel, mit letzter Kraft mein Zelt aufbaute und mich mit einem lauwarmen Bier in der Hand fragte, wie ich jemals Afrika durchqueren sollte. Es sollte der längste Ausflug bis zum Tourstart bleiben.
Den September verbrachte ich in den französischen Alpen, wo gezieltes Bergtraining anstand. Und ich eine weitere in mir schlummernde und bis dahin ungeahnte Passion entdeckte: Pässe fahren. Vor allem die langen Anstiege von 15 und mehr Kilometern gefielen mir und ließen mich in einen fast meditativen Zustand gleiten. Dass ich dabei immer wieder andere Rennradler überholte und vergleichsweise frisch auf den Gipfeln ankam, gab mir Zuversicht, zumindest die bergigen Abschnitte der Tour d’Afrique halbwegs überstehen zu können.
Blieb das Problem der langen Distanzen. Ein Problem, das ich nicht lösen sollte. Tagesetappen über 70 Kilometer blieben die Ausnahme, und nachdem sich der Dezember als ungemütlich schneereich entpuppte, war es selbst mit den Kurztripps vorbei. Das letzte Mal auf dem Rad saß ich am 21. November, als 52 Kilometer meine Jahresleistung auf exakt 6.217 Kilometer schraubten. Das war ein neuer persönlicher Rekord und doch nur etwas mehr als die Hälfte der Gesamtstrecke der Tour d’Afrique.
Na, die Kondition würde schon kommen.
Nun zum Beispiel, während ich das erste Mal seit sieben Wochen wieder im Sattel sitze und durch die ägyptische Wüste pedale. Ich meine trägen Muskeln spüre, die nur langsam warm werden im kühlen Wind. Mich in den leichten Gegenwind stemme und bedenklich keuche angesichts einer Steigung von kaum zwei Prozent, mit der sich das autobahnartige Asphaltband auf den Kamm einer drögen Wüstenlandschaft windet. Mehr als anderthalb Stunden brauche ich bis zum Lunchstopp irgendwo im Niemandsland. Freudlos stopfe ich mir ein Käsebrötchen rein, sauge missmutig an einer Orange, versuche, die Müdigkeit abzuschütteln. 67 Kilometer liegen noch vor mir. Wenn ich in diesem Tempo weiterfahre, sind das gute drei Stunden.
Kaum bin ich zurück auf der Straße, läuft es besser. Die Anstieg scheint überwunden, und auf dem Weg zum Roten Meer geht es spürbar bergab. Das Kurbeln fällt deutlich leichter, und auf dem Tacho flackern plötzlich Zahlen jenseits der 50 km/h-Marke auf. Als am Horizont ein größeres Peloton auftaucht, fahre ich das Loch zu und hänge mich hinten rein. Doch bald sind mir die Kollegen zu langsam und ich ziehe vorbei. Nach ungefähr 100 Kilometern erwischt mich noch ein kleiner Durchhänger, als ein Anstieg, auf dem zudem der Wind steht, sich als bissig erweist, dann reiße ich die Faust hoch und passiere stolz den Zielstrich.
Nur noch 11.864 Kilometer bis Kapstadt. Ich werde es schaffen!
Das nächste Abenteuer wartet schon, denn wir campieren mitten im Wüstensand neben der Autobahn. Ein runtergekommener Rastplatz dient als Parkfläche für die Trucks, die unser Gepäck transportieren. Ein nie fertig gestellter Toilettenblock versinkt erbärmlich stinkend unter einem Müllberg. Und die nächste Dusche werden wir frühestens in fünf Tagen sehen.
Etwa 20 Fahrer sind bereits im Ziel und haben ihre Zelte aufgebaut. Bunte Flecken im hellbraunen Niemandsland der Wüste. Ich finde ein Plätzchen zwischen den Behausungen von Horst und Dennis, die mir grinsend mitteilen, dass sie bis zum Schluss in der Spitzengruppe mitgemischt haben und schon vor einer guten Stunde angekommen sind. Bei einer wärmenden Suppe schwärmen sie vom Peloton aus starken Fahrern, das sich gebildet hatte. „Wir waren die ganze Zeit mit 40 km/h unterwegs“, gockelt Horst: „Komm, das schaffst Du auch. Morgen fährst Du mit uns.“ Doch für mich spielen diese Jungs in einer anderen Liga.
Hardy Grüne
352 Seiten, 17x24 cm
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2. Tag, 2. Etappe
16. Januar: Desert Camp – Desert Camp. 167 Kilometer
Fünf Uhr. Es ist stockduster. Dennis flucht, weil er irgend etwas nicht findet. Gelächter von der anderen Seite. Irgendwo singt jemand. Mir ist kalt. Meine Nasenspitze friert, das Zelt ist mit Raureif bedeckt. Mürrisch stapfe ich zum Küchen-LKW, gieße mir einen Kaffee ein. Igitt! Instant-Brühe! Und dann auch noch mit gechlortem Wasser! Mühsam würge ich das Gebräu herunter. Dann Klamotten einpacken, Zelt abbauen, alles zum LKW wuchten, Frühstücksmüsli runterschlingen.
Und mich der nächsten Herausforderung stellen. In der Ferne sehe ich Radler in bunten Klamotten und mit einem Spaten über ihren Schultern in die aufgehende Sonne marschieren. Ein surreales Bild. Die Wüste ist flach und bietet keinen Schutz. Privatsphäre? Gibt es nicht. Mit Klopapier bewaffnet mache auch ich mich auf den Weg. Finde eine kleine Bodensenke, buddel ein Loch, hocke mich hin und starre in den dämmrigen Himmel, während mein Darm erwacht. „Bitte verbrennt das Klopapier hinterher, denn das dauert Ewigkeiten, bis das in der Wüste verrottet“, haben uns die Veranstalter eingetrichtert. Doch mein Feuerzeug ist im Rucksack. Also buddel ich den Haufen einfach zu und kehre als entleerter Umweltfrevel zurück.
Auf unserem Vorbereitungstreffen hatten uns die Organisatoren noch ein paar weitere Verhaltensregeln mitgegeben. Wir erfuhren, wie wir eines der Begleitfahrzeuge stoppen können, wenn wir ein Problem haben (Daumen senken), erhielten ein ganzes Bündel Telefonnummern für Notfälle und gingen den Tagesablauf durch: 6:00 Uhr Wecken, 6:30 Frühstück, ab 7:00 Uhr Losfahren. Ungefähr auf der Hälfte der Tagesetappe wartet der Lunchtruck mit dem Mittagessen. Abzweigungen werden mit orangem Flatterband markiert, und jedem steht frei, nach eigenem Gutdünken Pausen zu machen oder sich in Cafés entlang der Route zu vergnügen. Bis zum Sonnenuntergang muss allerdings das Ziel erreicht sein, sonst kommt der Besenwagen. Im Camp hat sich jeder selbst um den Aufbau seines Zeltes zu kümmern. Nachmittags wird eine Suppe gereicht, und vor dem Abendessen besprechen wir beim „Riders Meeting“ die Etappe des nächsten Tages. Zum Abschluss nahmen wir feierlich unsere Startnummern entgegen, die am Fahrrad angebracht werden müssen. Ich bin mit der Nummer 121 unterwegs.
Die Organisationscrew wird angeführt von der erst 27-jährigen Südafrikanerin Sharita, die den Eindruck einer militärisch straffen Leitung vermittelt. Ihr zur Seite stehen Adele, ein quietschfideler Rotschopf aus Kanada, und Elvis, ein schweigsamer Tansanier. Bekocht werden wir von James und Kim, als Fahrradmechaniker reisen der US-Amerikaner Gabriel sowie Martin aus Kenia mit. Nick fungiert als Renn-Direktor, Mathias aus der Schweiz und Claire aus Australien als medizinisches Begleitpersonal. Pressesprecher Cristiano kümmert sich um den Tour-Blog im Internet.
167 stehen Kilometer auf dem Programm. Und damit exakt einer mehr, als auf der längsten Strecke, die ich jemals geradelt bin. Damals, auf dem Weg nach Hamburg, als ich todmüde ins Zelt gesunken bin. Und damals hatte ich keine 134 Kilometer vom Vortag in den Beinen. Im Camp herrscht Hektik. Jeder muss sich erst einmal organisieren, und alle haben großen Respekt vor der Megaetappe. Kaum ist die Sonne aufgegangen, krabbeln die ersten auf ihre Räder und machen sich auf den langen Weg gen Süden.
Es gibt es zwei Sorten von Teilnehmern: Rennfahrer (Racer) und Touristen. Das entspricht dem Charakter der Tour, die sich selbst als „Rennen“ und „Expedition“ versteht. Wer keine Lust hat, gegen die Uhr durch Afrika zu rasen, kann ohne Zeitdruck als „Tourist“ teilnehmen. Touristen fahren zwar dieselbe Strecke und Distanz, haben aber Zeit bis zum Sonnenuntergang, um im abendlichen Lager anzukommen. 28 der 63 Teilnehmer sind als Racer angetreten – darunter ich. Zwar ohne Ambitionen oder Illusionen auf eine etwaige Platzierung im vorderen Drittel, gefällt mir die Vorstellung eines viermonatigen Rennens durch ganz Afrika. Und dann ist da natürlich noch das männliche Ego, das nach Kräftemessen schreit.
Die deutsche Delegation besteht neben mir aus fünf weiteren Personen. Darunter mit Beate eine von nur 13 teilnehmenden Frauen. Die 45-jährige Architektin sucht nach drei Arbeitsjahren in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine „Herausforderung und Belohnung“. Im Gegensatz zu ihr und mir sind Horst, Dennis und Jörg ambitionierte Amateurradsportler, die reichlich Rennerfahrung auf ihren Buckeln haben. Horst ist ein drahtiger 48-Jähriger, der von der Teilnahme am Race Across America träumt, dem mit 4.800 Kilometern längsten Nonstop-Rennen der Welt. „Ich habe Spaß an körperlicher Herausforderung“, sagt er und fragt sich, ob „ich es schaffe, ohne den Luxus zu leben, an den ich mich gewöhnt habe“. Dennis ist mit 39 der Jüngste in unserer Riege. Immer vergnügt, hat der gebürtige Duisburger nicht nur ein eindrucksvolles Arsenal technischer Gerätschaften dabei sondern fungiert zudem als eine der Stimmungskanonen im Fahrerfeld. Dass er das gute Leben liebt, verrät sein leicht über dem Bauch gespanntes Trikot. „Wenn es erst mal in die Berge geht, falle ich zurück“, vermutet er angesichts seines „nicht idealen Kampfgewichtes“. Jörg hat sich für die Tour d’Afrique angemeldet, weil er Afrika „aus der Perspektive des Radfahrers und nicht des Autofahrers“ kennen lernen wollte. Der 45-jährige Entwicklungsökonom aus Hamburg hat viele Jahre auf dem Kontinent gearbeitet und war dabei stets motorisiert unterwegs. Das Rennen völlig egal ist Michael. Der 54-jährige Pfälzer will vor allem „Land und Leute“ kennen lernen. Er fährt folglich als Tourist. „Alleine würde ich nie durch Afrika radeln“, bekennt er.
Heute ist Mandatory-Tag. Ein Pflichttag für alle Racer. Am Ende werden jedem Racer die fünf schlechtesten Tagesetappen von der Gesamtwertung abgezogen. Die so genannten „Grace Days“. So kann man sich auch mal einen schlechten Tag erlauben. Oder im Truck mitfahren, wenn es gesundheitlich nicht so läuft. Was normalerweise zu einer Strafzeit von zwölf Stunden führt. Ausnahme: Mando-Days. Die werden immer gewertet. Und Mando-Days sind die härtesten Tag auf der Tour. Das wissen wir zwar noch nicht, doch das ahnen wir bereits. Im Vorjahr hatten die Teilnehmer am zweiten Tag auf den gesamten 167 Kilometern heftigen Gegenwind. Viele kamen erst kurz vor Sonnenuntergang im Camp an. „Normalerweise kommt der Wind aber aus Norden“, hieß es beim gestrigen Fahrermeeting aufmunternd. „Normalerweise“.
167 Kilometer. Wahnsinn. Als ich das erste Mal aufs Tacho gucke, liegen grade mal achteinhalb hinter mir. Nur nicht drüber nachdenken. Die erste Stunde läuft es prima. 30 Kilometer sind es noch bis zum Roten Meer, und mit Rückenwind überhole ich auf der leicht abschüssigen Straße viele vor mir gestartete Radler. Plötzlich lautes Surren. Die Racer kommen! In einem Affenzahn kurbelt das bunte Peloton an mir vorbei. Vielleicht 15 Fahrer sind es, die das Rennen ernsthaft und mit höchster Konzentration angehen. Die vor allem ihre eigene Zeit im Kopf haben, und denen Afrika nicht so wichtig ist. Als Horst mir ein „komm mit“ zuruft, hänge ich mich kurzentschlossen hinten dran und fliege ein paar Kilometer mit. Dann signalisiert mir mein hochpeitschender Puls, es doch besser wieder langsam angehen zu lassen.
Der Wind trifft mich wie ein Schlag. Leicht böig steht er auf der Straße, die südwärts nach Hurgharda führt. War wohl nichts mit Rückenwind. Und mit der Ruhe ist es auch vorbei. Ein LKW nach dem nächsten brüllt an mir vorbei. Die Nord-Süd-Route entlang des Roten Meeres gehört zu Ägyptens wichtigsten Verkehrsadern. Vor allem stinkende Öllaster sind unterwegs. Ich halte erst mal an, schlinge eine Banane runter und beruhige meinen Herzschlag. Dann stürze ich mich in den Kampf – ohne Knautschzone und Airbag, aber mit grimmiger Entschlossenheit, meine kleine Fahrspur gegen die Brutalo-Machos auf ihren Trucks zu verteidigen.
Mit aufgeregtem Herzen kurbel ich mich durch eine exotische Landschaft. Links glitzert das Rote Meer, dahinter kann ich die Sinai-Halbinsel erkennen. Rechts türmen sich Berge auf. Dazwischen ein Asphaltband und jede Menge Baustellen. Ägypten rüstet sich für den nächsten Touristikboom. Es scheint, als solle die ganze Küste mit Hotelkomplexen zugeknallt werden. Fremdenverkehr als Wirtschaftsmotor. Jeder achte Arbeitsplatz im Land hängt vom Tourismus ab. Doch ob das wirklich so gemütlich ist, seinen Jahresurlaub in der akustischen Begleitung von Öltankern und Öllastern zu verbringen? Und die Sonne scheint im Januar auch nicht gerade kräftig. Unter dem grauen Himmel hat es höchstens 15 Grad.
Gut zum Warmradeln. Bald habe ich meinen Rhythmus gefunden und pedale stoisch gen Süden. Passiere eine mit deutscher Finanzierung errichtete gewaltige Windkraftanlage, überhole gelegentlich andere Radler. Noch ist die Kommunikation untereinander eingeschränkt. Sich 63 Gesichter und Namen zu merken, braucht seine Zeit. So beschränkt sich der Dialog auf ein freundliches „Good morning“ oder „have a nice ride“, wenn wir uns überholen oder ein paar Meter gemeinsam fahren.
Meistens stemme ich mich allerdings alleine in den Wind, denn das Fahrerfeld ist weit auseinandergezogen und jeder sucht nach seinem eigenen Rhythmus. Beständig purzeln die Kilometer aus dem Bordcomputer. Bald habe ich die 70-Kilometer-Marke überwunden, und der Lunchstop rückt näher. Kurz zuvor jedoch Aufregung. Schweres Gerät rasselt über die Straße, fette Bagger reißen dröhnend den Boden auf. Der Fahrdecke ist schon verschwunden, und mit meinen dünnen 25er Slicks taste ich mich vorsichtig über eine tückische Schotterpiste. Jetzt bloß keine Reifenpanne!
Der weiße Lunchtruck sticht von weit her aus der graubraunen Wüstenlandschaft heraus. Der erste Meilenstein ist erreicht. Nachdem gestern alles noch ziemlich aufregend war, ist heute bereits ein Hauch von der Routine zu spüren, die uns nun vier Monate lang begleiten wird. Eine Routine, die sich um drei Eckpunkte dreht: Start, Lunch und Ziel. Das Leben ist übersichtlich auf der Tour d’Afrique.
Nach einer Viertelstunde, einem energievollem Sandwich und mit aufgefüllten Trinkflaschen sitze ich wieder auf dem Rad. Doch der Wind hat viel Energie gefressen, und die Müdigkeit holt mich bald ein. Verzweifelt beobachte ich die quälend langsam steigende Zahl der Gesamtkilometer auf meinem Tacho. Als die magische 100 endlich erreicht ist, gönne ich mir ein Päuschen und versuche mich, an einer Banane knabbernd, an einer ersten Bestandsaufnahme. Positiv: es plagen mich keinerlei Probleme an Knien und Allerwertesten, den ich tüchtig mit Melkfett eingerieben habe. Negativ: mit der Kondition ist es nicht weit her. Die paar lustlosen Spinning-Einheiten im schneereichen Dezember haben nichts bewirkt, und wie ich die noch ausstehenden 67 Tageskilometer in diesem Zustand bewältigen soll, ist mir ein Rätsel. Ganz zu schweigen von den vier weiteren Fahrtagen bis zum ersten Ruhetag in Luxor. Meine paar Körnchen sind jetzt schon aufgebraucht.
Aber was hilft es? Ich muss da durch, wenn ich jemals bis nach Kapstadt kommen will! Und so kletter ich bald wieder in den Sattel, stemme mich gegen den Wind und verringere mit jeder Pedalumdrehung die Distanz bis zum Lager. Nach 136 Kilometern taucht am Straßenrand ein Fahrzeug auf. Der versprochene „Refreshment-Stop“. Mit müden Kurbelstößen schleppe ich mich zur rettenden Quelle – und falle erst mal mitsamt Rad um. Wirklich! Irgendwann unterwegs muss ich eine Schraube meiner Bindung verloren haben. Als ich ausklinken will, blockiert die Bindung, und bis ich geschnallt habe, was passiert, liege ich längst fluchend im Straßengraben. Immerhin ohne Blessuren geblieben, atme ich bei einem lauwarmen Energiedrink erst mal tüchtig durch. Immer noch 30 Kilometer, bei meinem derzeitigen Tempo eine gute Stunde. Und damit unvorstellbar lang.
Mein Glück sind Luke und Terry. Die beiden Australier sind kurz nach mir angekommen und befinden sich in ähnlich desolater körperlicher Verfassung. Im energiesparenden Dreier-Peloton geben wir uns gegenseitig Windschatten und erreichen knapp 50 Minuten später das Camp. Meine Stimmung pendelt irgendwo zwischen hysterischer Aufgeregtheit und totaler Erschöpfung. Immerhin: die ersten emotionalen und physischen Hürden sind überwunden. 167,08 gefahrene Kilometer zeigt der Bordcomputer. Bei einem Schnitt von 25,75 km/h habe ich 6:28:46 Stunden im Sattel gesessen. Mitsamt der Pausen komme ich sogar auf knapp acht Stunden. In meinen Augen geradezu wahnwitzige Zahlen. Und morgen stehen schon wieder 135 Kilometer an.
Zudem zeigt sich, dass die Zeit durchaus knapp werden kann. Als ich das Camp erreiche, ist es kurz vor Vier. Um sechs wird zum Essen gebeten, und in der Zwischenzeit muss ich mein Zelt aufbauen, meine Klamotten wechseln und das Problem mit der verlorenen Bindungsschraube lösen. Bei dem böigen Wind wird schon der Zeltbau zum Problem. Ruckzuck ist alles voller Sand, während ich noch immer fluchend mit dem Gestänge hantiere. Als die Unterkunft endlich steht, reihe ich mich leicht genervt in die Reihe der Wartenden am „Bike-Shop“, unserer toureigenen abendlichen Rad-Reparaturwerkstatt, ein.
Zwei Mechaniker begleiten die Tour d’Afrique, doch meistens ist nur einer von ihnen im Einsatz. Heute ist es Gabriel, der „Gabe“ genannt werden will und ein wahrer Zauberer ist. „Kein Problem“, urteilt er, als ich mit meinem Rad, an dem immer noch der rechte Schuh baumelt, angehumpelt komme. Sekunden später hat er die Bindung gelöst und präsentiert mir mit leicht anklagendem Blick mein Schuhwerk. „Schau mal, das ist alles völlig verdreckt. Kein Wunder, dass Du eine Schraube verloren hast.“ Schuldbewusst nicke ich, ehe mich seine Frage nach einer Ersatzschraube vollends aus der Fassung bringt. Habe ich natürlich nicht dabei. Zum Glück waren andere Fahrer weitsichtiger und ich kann mir ein Schräubchen leihen.
Nebenbei erfahre ich vom ersten Unfall. Bram, Niederländer und einer der Geheimfavoriten auf den Toursieg, ist in der Baustelle vor dem Lunch von einem LKW angefahren worden. Ihm selber ist nichts passiert, doch sein Hinterrad ist hinüber. Mit ernstem Gesicht fragt er sich nach einer Ersatzfelde durch – und wird tatsächlich fündig. Solidarität unter den Fahrern ist unabdingbar, um das Ziel Kapstadt zu erreichen.
Die Nacht ist erfüllt von LKW-Gedonner. Wir kampieren an einem Polizei-Checkpoint. Immer wieder wache ich auf, weil sich ein Truckdriver hupend nähert. Entsprechend gerädert erwischt mich der Weckruf um 5.45 Uhr in der Früh. Doch ich bin schon deutlich besser organisiert. Gleich der erste Weg führt mich mitsamt Spaten in die Wüste. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, findet sich leichter ein lauschiges Plätzchen zur Darmentleerung. Erstaunlich, wie schnell das Ausscheidungsorgan zeitlich trainiert werden kann. Daheim muss ich immer erst gefrühstückt haben. Hier geht es sogar vor dem ersten Kaffee.
Mit dem Fahrrad von Land's End nach John O'Groats
Hardy Grüne
228 Seiten, A5, Paperback
19,90 Euro
50. Tag, 40. Etappe
5. März: Sololo – Lava Rock Camp. 84 Kilometer
Wenn man 84 Kilometer vor sich hat und dabei bestenfalls mit 15 Stundenkilometern vorwärts kommt, sollte man nicht allzu viel darüber nachdenken. Um meinen Verstand abzulenken, lasse ich auf dem Bordcomputer nicht die gefahrenen Kilometer anzeigen, sondern die Uhrzeit. Ziel: Erst mal bis 9 Uhr durchfahren. Dann hoffe ich, irgendwo in der Nähe des Lunchtrucks zu sein. Die Piste ist zunächst akzeptabel. Viel Wellblech und immer wieder sandige Abschnitte, insgesamt aber ordentlich zu fahren. Wir kommen zügig voran, liefern uns ein paar lustige Zwischensprints und saugen die sich dramatisch verändernde Landschaft auf. Zunehmend geht die dornige Steppe in eine karge und lebensfeindliche Wüste über. Nachdem wir anfänglich noch ein paar kleine Siedlungen passiert und Menschen gesehen haben, umhüllt uns bald Einsamkeit. Tristbraun ergießt sich das Nichts vor unseren Augen. Nur unsere Flüche über die Piste und das Knirschen der Räder auf dem rauen Belag ist zu hören.
In der aufgehenden Sonne verdampfen die Energiereserven in besorgniserregendem Tempo. Bald ist es grotesk heiß. Dabei behauptet meine Uhr, es sei erst Acht. Sam drosselt sein Tempo, und ich kurble alleine weiter durch die Einsamkeit. Die Piste wird immer anspruchsvoller. Sie ist durchzogen von tiefen Waschbrettrillen. Stoisch ertrage ich die Tortur. Als ich am Horizont ein Fahrzeug entdecke, meine ich, den Lunchtruck zu erkennen. Zehn Minuten später bin ich da. Jaule frustriert auf, als ich sehe, dass es nur ein einsamer LKW-Anhänger ist. Um neun Uhr wage ich einen ersten Blick aufs Tacho. 38 Kilometer. Nicht übel. Eine halbe Stunde später wieder ein Fahrzeug am Straßenrand. Diesmal ist es der Lunchtruck. Ich lasse mein Rad in den Staub fallen, schlüpfe unter das Sonnentarp und genieße die anerkennenden Blicke der anderen Fahrer. Wer es bis hierhin geschafft hat, verdient Respekt.
Samuel mit Handys in seinem Shop.
Eine Viertelstunde später breche ich mit gefüllten Energiespeichern wieder auf. Nach einem Kilometer erreiche ich das Örtchen Turbi und damit die letzte menschliche Siedlung für die nächsten 120 Kilometer. Und treffe Samuel. Er betreibt den Sumburi Shop. Eine kleine Lehmhütte, vor der effektheischend ein Generator brummt. Und Samuel die Taschen füllt. Denn mit dem erzeugten Strom betreibt der stolze Shopbetreiber nicht nur einen Kühlschrank, aus dem ich eine kühle Cola klaube, sondern vor allem ein Arsenal an Handy-Ladegeräten. Jeder Einwohner im stromlosen Turbis muss zu Samuel, wenn er seinen Telefonakku aufladen will. Was Samuel mit 20 Shillingen – etwa 20 Eurocents – berechnet. Stolz lässt sich der clevere Geschäftsmann von mir ablichten. Afrika kann entwaffnend pragmatisch sein!
Bis zum Horizont nur graubraune Ebene. Sauber gespalten von einer leicht helleren Schneise: unsere Piste, die sich in der endlosen Weite verliert. Der Blick nötigt Respekt ab. Er bietet keinerlei Halt. Irgendwo da draußen muss mein Ziel liegen. Mit jedem Meter verschlechtert sich der Zustand der Fahrbahn. Zum enervierenden Waschbrett kommen zunehmend größere Steine. In dem Trümmerfeld eine konstante Fahrlinie zu finden ist unmöglich. Der kraftraubende Schlinger- und Rüttelkurs zehrt an den Nerven. Dennoch komme ich zügig voran. Gönne mir nach zehn Kilometern eine Pause und hocke mich in der schattenlosen Landschaft einfach an den Straßenrand. 57 von 84 Tageskilometern liegen hinter mir. So schlimm kann es nicht mehr werden. Glaube ich. Hoffe ich.
Dann erreiche ich die Lavawüste, und sie ist schlimmer, als ich es mir in meinen wüstesten Träumen hätte ausmalen können. Vor mir erstreckt sich ein gigantisches Meer aus Steinen. Schweinskopfgroße Lavabrocken, die stumpfsinnig aus dem Boden lugen. So muss es auf dem Mond aussehen. Fassungslos halte ich an und schieße ein paar Fotos. Leer und barsch brät die Landschaft schier unbezwingbar in der Sonne. Irgendwo mitten drin muss der Trans-African-Highway „A2“ verlaufen. Eine Fahrspur ist in dieser grotesken Ödnis jedoch kaum zu erkennen. Wie besoffen taumle ich über die archaische Steinformation, grinse über die Klassifizierung als „Highway“. Wahrlich ein “Highway to hell”. Das vulkanische Gestein so hart, dass es selbst dem jahrelangen LKW-Verkehr getrotzt und sich seine spitzen Kanten bewahrt hat. Euphorisch gluckse ich auf, wenn mein Tempo mal die 10 km/h-Marke überschreitet. Meistens ist jedoch bei 5 bis 8 km/h Schluss. 15 Kilometer habe ich noch vor mir. Drei weitere Stunden in der Hölle.
In der Steinwüste.
Unter einem dürren Bäumchen stoppe ich. Sauge Flüssigkeit und Energie aus meinen Bidons. Gestern Abend habe ich sie mit Pfefferminztee gefüllt, der in der brütenden Hitze tatsächlich etwas kühlt und mir die Illusion von Erfrischung schenkt. Stumm blicke in mich um, versuche, mich in Beziehung zu dieser bizarren Landschaft zu bringen. Ich will die ganze Brutalität des Moments in mich aufnehmen. Um mich eines Tages, wenn ich zurück bin in meiner Wohlfühlwelt, daran erinnern zu können. Sich hier durchschlagen zu müssen, ist eine wundersame Extremerweiterung der Lebenserfahrung.
Wann immer ein LKW oder ein Bus auftaucht, muss ich flüchten. In einem Wahnsinnstempo schlingern die Fahrzeuge wild über die Piste. „Wenn du hier abbremst oder zu langsam fährst, bist du verloren“, hat Truckdriver Steve versucht, Verständnis für das rüde Verhalten zu wecken Für uns heißt das, sofort vom Rad zu springen und möglichst weit weg zu sein, wenn ein Fahrzeug kommt. Einmal habe ich Glück. Vor mir teilt sich gerade die Piste auf, als ich hinter mir einen Bus röhren höre. Ich wähle den linken Pfad, der mir schmaler erscheint, und gehe davon aus, dass der Bus nun rechts passieren wird. Wohlweislich halte ich dennoch an und sehe mit Schrecken, dass der Fahrer auf die linke Spur abbiegt und in einem Höllentempo auf mich zurast. Panisch springe ich vom Rad. Jage mir eine Pedale in den linken Unterschenkel. Hechte in allerletzter Sekunde aus der Gefahrenzone. Schicke dem Fahrer düstere Flüche und Verwünschungen hinterher. Was für ein skurriles Bild muss ich abgegeben haben! Ein weißer Mann in knallroten Lycraklamotten, der mitten in der menschenleeren Wüste steht und wild flucht. Köstlich! Zum Glück sah mich niemand.
12.000 Kilometer Radrennen zwischen Kairo und Kapstadt
280 Seiten, A5, Hardcover
ISBN: 9-783-7688-5345-3
15 Euro