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Abseits des Sattels

Das Fahrrad ruht, doch die Reise geht weiter. Mit Essaouira und Agadir stehen noch zwei Urlaubs-Destinationen auf dem Programm. Sie sollen vor allem den Sommer ein wenig verlängern, aber auch meine Einblicke in Marokko weiter schärfen. Radfahren findet nur noch in homöophatischen Dosen statt, ohne dass es Neues zu berichten gibt.


Kaum auf der Straße, strengt der Verkehr an, und in den Städten wird noch einmal deutlich, wie dominant motorisierte Fahrzeuge in Marokko tatsächlich sind. Selbst auf den Fußwegen, auf die Zweiradfahrer gerne ausweichen, wenn die Straße gestaut ist, wobei sie die Fußgänger dann rabiat per Hupe aus dem Weg scheuchen. Zum Dank gibt es maximal einen kleinen Handgruß. Alles, was einen Motor bzw. Räder hat, hat hier automatisch Vorfahrt, und Fußgänger müssen wahrlich starke Nerven haben, um erfolgreich mitzuschwimmen. Wobei das nun wahrlich nicht exklusiv für Marokko gilt sondern in den allermeisten Regionen auf der Erdkugel ähnlich ist. Komfortzonenländer wie Deutschland haben Komfortzonenprobleme, über die man in Marokko nur den Kopf schüttelt.

 

Der Bus von Marrakesch nach Essaouira bestürzt. Nur Europäer! Viele Franzosen, ein paar Deutsche. Marokko? Findet nicht statt. Nur am Lenkrad und beim Gepäckeinladen dürfen Einheimische ran. Mein Rad sorgt für Verwirrung weil es kein Koffer ist. Nach einigem hin und her darf es dann aber wie gewohnt rückwärts einparken. Drei Stunden, dann ist Marokkos Touristendestination Nummer 3 nach Marrakesch und Agadir erreicht. Ich bin traurig, dass ich nicht radle. Das Wetter ist wunderbar. Aber die Vorstellung, wieder im Dieselgestank und Verkehrschaos zu kurbeln zu grässlich. Marokko ist kein Land für Radreisende. Zumindest nicht für mich. 

Dazu kommt die wenig inspirierende Landschaft. Steinwüste überall. Gleich hinter Marrakesch geht es los: Braungelb, durchsetzt mit Felsbrocken und Steinen sowie Sandstaub. Hier und da etwas grüner Flaum. Ein Olivenhain, verdörrte Bäume. Lebendigkeit suggerieren nur die vielen Glasscherben, die überall lustig in der Sonne glitzern. Manchmal durchfahren wir Örtchen mit funktionalen Wohnhäusern und einer klassischen Ladenzeile, etwas Landwirtschaft sowie zwingend einem alterslosen Mann auf einem Eselkarren. Die tägliche Zeitreise in Marokko. Ich vermisse Fröhlichkeit, auch Optimismus. Überall sitzen Männer, die scheinbar einfach warten.


Essaouira schwankt zwischen Authentizität und Touristenfalle. Verbunden ist beides über einen schmalen Grat. Ständig tauchen Männer in traditioneller Kleidung und mit Musikinstrumenten auf. Sie marschieren von Restaurant zu Restaurant, nerven mit der immer gleichen Melodie. Zwei Minuten Geklimper, dann halten sie die Trommel hin und verlangen ihren Lohn. Der fällt karg aus. Die meisten sind genervt von der ständigen Bespaßung, die nichts authentisches hat. Ansonsten schmeißt der internationale Tourismus hier die Show. Auf dem Platz vor der Altstadt hat ein Langhaariger seine Bühne aufgebaut. Er spielt amerikanische Folksongs und hofft auf ein paar Dirham. Auch Alternativtourismus weigert sich, mit der bereisten Region zu verschmelzen und benutzt sie stattdessen als Bühne. Brücke ist da wenig.


Essaouira ist eine Stadt der Katzen. Sie sind überall, und sie werden geliebt, geherzt und umsorgt. Wie heilige Kühe in Indien liegen sie mitten auf dem Weg und erwarten, dass die Fußgänger drumherum gehen. Sogar die wilden Knatterjungs auf ihren Motorrädern umkurven sie. Rührend, wenn die Vierbeiner noch sehr jung sind. Herzzerreißend verletzlich, stehen sie mitten im Menschenstrom. Die Knopfaugen riesig, wünscht man sich, das Geschehen aus ihren Augen zu sehen und sorgt sich zugleich um ihr Wohlergehen.

 

Die sieben Wochen im Land haben mich hart gemacht. Ich habe meine Neugierde, mein Interesse verloren. Zu viele Begegnungen, die in ähnliche Richtungen gingen. Und mit Enttäuschung, Frustration endeten. Da ist Marokko, hier bin ich. Zwischen uns verläuft ein Graben. Marokko will ihn nur überwinden, wenn ich dafür bezahle (und sobald die gebuchte Zeit abgelaufen ist endet der Film). Ich will ihn nur überwinden, wenn ich auf echtes Interesse stoße. Ein klassisches Patt.

Meine Lust auf Kontakt zerrieben. Zu viele "hey, my friend", zu viele miese Erfahrungen. Wie der Brotverkäufer gestern Abend, der mir statt zwei Laibe, wie ich sie wollte, vier einpackte und sich dann mein Kleingeld zeigen ließ, weil er nicht in der Lage war, den Preis mit den Fingern anzuzeigen. Zwei Brote, das sind in der Regel zwei bis zweieinhalb Dirham. Als er sich drei 10 Dirham-Stücke griff, riss ich ihm die Hand weg. Er guckte mich lächelnd an, warf noch ein Brot in den Beutel und war der Meinung, nun seien wir aber quitt. Absurd. Ich ließ ihm seine Ware und zahlte einen Stand weiter zwei Dirham für die beiden Laibe, die ich von vornherein haben wollte.


Oder jetzt wieder. Ich sitze in einem Restaurant in der Medina. Vor mir waltet ein Touristenfänger seines Amtes und drückt jedem Vorbeikommenden einen Flyer in die Hand. Dann kommen die erwähnten Musiker und spielen ihre ewige Melodie. Die gleiche wie gestern. Von Restaurant zu Restaurant ziehen sie. Ich habe früh entschieden, dass meine Spendengelder ausnahmslos an die Alten und Gebrechlichen gehen, die überall auf dem Boden hocken und stumm die Hand ausstrecken.

 

Der Muezzin in Essaouria ist ein Teufel. Morgens um fünf beginnt er sein Werk. Die Lautsprecheranlage hoch gedreht. Kurz geräuspert, dann setzt er an zum großen Allah-Jubel. Er ist ein Folter-Spezialist. Als würde er mit seinem Finger ins Ohr bohren fließt die Botschaft direkt ins Hirn. Seine Stimme ein Orkan aus Anklage, Leid und Befehl. Gehirnwäsche. Das Wort Islam steht für Unterwerfung unter den ewigen Willen Gottes. Fast zehn Minuten knetet er die Gehirne der Menschen, die doch nur schlafen wollen. Was ist das für eine Religion, die ihre Gläubigen so knechtet?

 

Der Fußmarsch durch die Medina das übliche Duell mit den wilden Mopefahrern. Mit starren Blick schlängeln sie sich durch die Menschenmenge. Zielgerichtet und rücksichtslos. Anstrengend, denn man muss ständig aufpassen, nicht übergemangelt zu werden. In Marokko darfst Du nicht entspannen.


Die Weiterfahrt nach Agadir ansprechend. Tatsächlich ist vor allem die Gegend nördlich von Agadir ausgesprochen schön. Viele Hügel tragen Farbe statt Einheitsbraungelb. Entlang der Küste überall versteckte Sandbuchten und kleine Orte. So stelle ich mir die Kanaren vor.


In Agadir holt mich der Verkehr wieder ein. Ich radle hinaus zu Radmechaniker Khalid, der mir eine Fahrradbox für den Rückflug organisiert hat. Über den breiten Boulevard Mohamed kämpfe ich mich Richtung Westen. Es ist heiß. 34 Grad Anfang November. Die Luft dieselverseucht. Das Team in der Radwerkstatt fröhlich wie beim ersten Besuch. Ich erzähle von meiner Tour, lerne einen Tierarzt kennen, der mit 67 Jahren Richtung Vietnam aufbricht, um dort zu radeln. Abenteuer geht immer, das Leben ist zu wertvoll für ungelebte Träume.


Abends sitze ich beim Italiener um die Ecke. Seine Pasta ist unschlagbar, ich befinde mich in latenter Gefahr, Stammgast zu werden. Zwei junge Kerle auf einem Moped rollen auf die Kreuzung vor dem Restaurant. Es ist kurz vor acht am Abend. Stockdunkel in Agadir. Ihr Moped ist unbeleuchtet und bleibt mitten auf der Kreuzung stehen. Motor aus, nichts geht mehr. Autos und Busse jagen an vier Seiten um das unbeleuchtete Duo. Der Sozius-Fahrer steigt ab, bleibt mitten auf der Kreuzung stehen, während der Pilot versucht, die Maschine wieder anzuwerfen. Als es ihm gelingt, hüpft der Mitfahrer auf den Gepäckträger und die beiden fahren weiter unbeleuchtet durch die Nacht von Agadir.

 

Der Stadtverkehr eine hormongeschwängerte Machobühne. Junge Kerle auf dröhnenden Motorrädern hebeln alle Regeln aus. Weder ist ohne Licht gegen den Verkehr ein Problem, noch lichtlos bei Rot über die Ampel oder blind in den fließenden Verkehr einreihen. Oft sitzt noch jemand auf dem Gepäckträger, manchmal fährt auf dem Schoss zudem ein Kleinkind mit. Helme tragen nur wenige. Auf den Straßen herrscht die Anarchie der Dreisten, und die jungen Kerle genießen ihre Rolle als rabiate Helden, die sich alles erlauben können. Dass es nicht ständig zu Unfällen kommt ist ein Wunder, spricht aber dafür, dass Chaos dann funktioniert, wenn alle mitmachen und an seinem Funktionieren Interesse haben. Deutschen Ordnungsfetischisten droht in Marokko allerdings ein Zustand der Dauererregung.

Erstaunlich die Polizei. Omnipräsent, wirkt sie völlig gleichgültig gegenüber den ständigen Gesetzesübertretungen. Es ist ohnehin aussichtslos, und die Polizei macht ja auch mit. Die Warnanlage auf dem Autodach leuchtet immer, und Polizisten scheren sich ebenso einen Dreck um die Regeln wie die breite Masse.

 

Marokko ist zweifelsohne in der Transformation. Man sieht es am Strand. Ungefähr 80 Prozent junge Männer. Meistens in raumgreifenden Gruppen. Die Unsicherheit des Erwachsenwerden wird hinter Lautstärke versteckt. Sie nehmen wie selbstverständlich die Bühne ein. Ihnen gehört die Show, das wird ihnen früh eingeimpft. Auch das ist zu sehen am Strand, wo die kleinen Burschen in Badehose rumlaufen und sich in Machotum üben, während die Mädchen Haut verbergen. Und still sind. Im Hintergrund. Dennoch ist die Transformation erkennbar. Gemischte Gruppen spielen Fußball. Mädchen werden vorsichtig eingebunden, die Bereitschaft zur Verschmelzung ist spürbar. Was nicht sichtbar ist: das Flirtspiel. Die Jungs lärmen in ihrer Blase, die Mädchen vergnügen sich in ihrer. Keine offenen Blicke wechseln die Seiten, keine noch so vorsichtigen Kontakte entstehen. Parallelwelten am Strand von Agadir. Wie wird Marokkos Alltag in zehn Jahren aussehen, wie in 20?

Dass es in Marokko kaum Alkohol gibt, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, macht die Sache interessant. In jedem westlichen Land würden hier vermutlich überall Bierdosen und Schnapsleichen rumliegen, gäbe es laute Musik, Gegröle, Partystimmung und rüde Anmache. In Marokko ist alles ruhig.

 

Bei den Älteren sind die traditionellen Strukturen noch klar erkennbar. Eine Familie schlägt ihren Sonnenschirm vor mir am Strand auf. Mutter, Tochter, Sohn kurz vor dem Erwachsenenalter. Kurz danach erscheint das Oberhaupt der Familie. Bemängelt den gewählten Platz. Weist nach weiter hinten. Kurze Diskussion, dann wird gepackt und umgezogen. Ohne Murren. Der Mann ist Herr im Haus. Andere Szene, gleicher Strand, neue Familie. Vier Personen. Man hat einen weißen Plastikstuhl dabei. Der Sohn, in den frühen 20ern, müht sich, den Sonnenschirm im Sand zu verankern. Das Familienoberhaupt, deutlich unter 50, also kein "Alter", darf schon mal Platz nehmen. Als der Sonnenschirm ausgerichtet ist stellt man seinen Stuhl so, dass er im Schatten sitzt. Alle anderen nehmen in der Sonne Platz.

Beklemmend die Ganzverschleierten, deren Burka sich an den Beinen mit Wasser vollsaugt, wenn sie, meistens zu zweit oder dritt, am Strand entlanggehen. Es sind wenige, und alle sind älter. Marokko hat eine offene Zukunft. Bei der weiblichen Jugend gibt es diverse Möglichkeiten der Strandbekleidung. Keine beinhaltet Bikini oder Badeanzug. T-Shirt oder Fußballtrikot und Shorts sind das höchste der Gefühle, wenn es um Fleisch zeigen geht. Damit wird auch in die Wellen des Atlantik gehüpft. Die strengere Variante sind lange Leggins oder gleich Burkini. Damit stürmen die Teenies fröhlich in die Fluten und haben offenkundig Spaß. Ja, denn den haben sie! Meine Beobachtungen sind schließlich nicht neutral, sondern gefärbt von westlicher Sozialisation und sollen insofern nicht Werten.

Insgesamt sehe ich ohnehin ein großes Maß an Toleranz und eine sehr entspannte Haltung bezüglich der Kleiderordnung. Vor allem bei den jungen Menschen, die, soweit ich das beurteilen kann, ein großes Maß an Freiheit und Selbstbestimmung haben. 


Und damit ein herzliches letztes Bsslama aus Marokko von eurem "hardy cyclist". Mal schauen, wo das nächste Abenteuer hingeht!

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Kommentare: 2
  • #1

    Uli Wunderlich (Sonntag, 10 November 2024 18:36)

    Hallo Hardi,
    wir haben - glaube ich - alles gelesen. Wunderbarer Bericht, sehr eindrücklich geschildert.
    Mit dem Fahrrad ist es schon mal ein mächtig anderes Erlebnis, als wir damals (in den 80ern) hatten und ähnliche Touren mit dem Auto (auch wenn es nur ein schrottreifer R4 war) gemacht haben. Radfahren wäre damals kaum anders gewesen, na ja, wahrscheinlich ein paar weniger Fahrzeuge unterwegs.
    Das damals teilweise noch "echte Marokkofeeling" ist heute nach deiner Beschreibung ja leider nur noch Kulisse. Die nervigen Händler oder Touristenführer ("komm gucken machen Frauen Teppich" oder "Preise wie bei Aldi") sind noch da. So wie die Fliegen in den Straßen. Einzig hilft: komplettes ignorieren. Wir haben versucht, immer einen von den pfiffigen Minderjährigen (sprechen deutsch, englisch, französisch sowieso) zu engagieren, gegen vorher ausgemachter Bezahlung uns ein Hotel, die Post, eine Bank und als erstes ein gutes Restaurant zu zeigen, also dahin zu führen und: uns alle anderen Aufdringlinge vom Leib zu halten. (Bei dieser Gelegenheit konnte mann gleich ein paar sehr eindeutige Beschimpfungen auf arabisch lernen, z.B. etwas, dass sich etwa wie "Maha Mirksch" angehört hat (und so ausgesprochen, auch verstanden wurde) was "Fuß von Ziege" bedeutet und böseste Beleidigung ist. Als Touri keinesfalls zu benutzen, man wäre in so einem Streit schnell in der Minderheit.
    Ja, diese Bilder im Kopf beim Miterleben deiner Reise haben mir gesagt: "Nothing ever changed" würde es nicht ganz treffen aber "Some things never change" soweit eher.
    Wir freuen uns auf ein Wiedersehen mit dir, ich weiß ja nicht, ob du das bestätigen kannst: Hinterher war's umso besser, desto schlimmer es war.
    in diesem Sinne: Danke, für die herrliche Schilderung, bis dann
    Uli

  • #2

    Uli Wunderlich (Montag, 11 November 2024 18:35)

    Nachtrag: Lieber Hardy, sorry für "Hardi", da hat meine Autokorrektur versagt...