Auf dem Place Jemaa el Fna, dem "Platz der Gehängten", treffen sich Nordafrika und der Rest der Welt. Marrakesch stellt sich hier aus. Mit allerlei Klischees, um die mitgebrachten Sehnsüchte der Reisenden aus der Ferne zu befriedigen. Mit dennoch erstaunlicher Authentizität und natürlich mit einer intensiven Hingabe an den Gott des Massentourismus, der hier eine gemeinsame Großfiliale mit der Königin des Konsums betreibt. Auf Tinder würde man sagen "it's a match".
Wer nach Marokko kommt muss zum Place Jemaa el Fna. Das läuft harmonischer als erwartet. Vielleicht auch, weil sich die Marokkaner den Charakter ihrer alten Souks vom Massentourismus nicht rauben lassen. Und sei es nur als Autobahn für die ungezähmten Motorräder und Motorroller, die unablässig durch die engen Gassen donnern, so dass man um Leib und Leben fürchtet. Es fühlt sich ein bisschen an wie auf dem Fahrrad zwischen Ouarzazate und Aït Ben-Haddou. Es wird hautnah überholt, der Blick des Piloten sucht immer nach der nächsten Lücke und Sieger ist, wer sie am schnellsten findet. Als Fußgänger tritt man da besser beiseite. Verkehr in Marokko ist immer irgendwie stressig.
Die Souks so authentisch wie heftig gentrifiziert. Erinnerungen an 1983 kommen auf, als ich als Inter-Railer in Marrakesch landete. Damals eine völlig fremde, exotische Welt, in der wir uns als naive junge Menschen holprig zurechtzufinden versuchten. In irgendeinem Hinterhof mitten in den Souks hatten wir ein Zimmer, in dem wir zu viert schliefen. Das Klo war auch Dusche und zum hocken. 41 Jahre später ist die Substanz der damaligen Welt noch da, was eindeutig für Marrakesch spricht. Punktuell aber hat sich die neue Welt breitgemacht. Um den müden Touristen, die genug haben von arabischer Exotik, ein bisschen Komfortzonenbehaglichkeit zu spenden. In einem dieser Etablissements werden frische Falafel-Sandwichs serviert. Umgerechnet 6 Euro. Ich gönne mir den Spaß, für den Tee à la Menthe gehe ich dann aber wieder zu den Einheimischen.
Tatsächlich wird in den Souks viel gebaut. Alte Bausubstanz verschwindet, moderne entsteht. Das Viertel behält sein historisches Gedächtnis. Und doch übernimmt zunehmend die Moderne. Die Guides, die 1983 Geld wollten, um uns verirrte Touristen wieder aus dem Gassengewirr rauszuführen, sind heute arbeitslos. Ersetzt durch Google Maps. Damit findet jeder selbst wieder raus.
Der Verkehr auch außerhalb der Soukmauern eine Zumutung. Ein einziger Lärmteppich. Um über die Straßen zu kommen braucht es Mut. Ampeln sind vor allem für die Zweiradfahrer nur Zierde, die Zebrastreifen bestenfalls eine Empfehlung. Wer nicht einfach losgeht steht morgen noch da. Der große Boulevard Mohamed V verbindet die Souks mit meinem Hotel. Es sieht aus wie Berlin, Madrid oder London. Boutiquen, Restaurants, Cafés. Junge Mädchen aus der Komfortzone kommen aufgeregt vom Shoppen aus der H&M-Filiale. Gruppen von lärmenden und nach zu intensiver Deo-Behandlung riechender Burschen marschieren in Richtung Adidas-Dependance. Danach trifft man sich zum Kaffee bei Starbucks oder bei McDonalds. Alles wie zuhause. Marrakesch ist wie Berlin mit arabischem Teint. Ach ja, und zur Schau gestellten Menschen mit schweren Gebrechen in Rollstühlen. Sie sollen an der Mitleidsschraube der Konsumentenwelt drehen. Allzu gut klappt das nicht, die Pappschalen vor ihnen füllen sich nur langsam.
Im Hotel Villa Yousra, in einer Nebengasse einer ruhigen Seitenstraße gelegen und damit eine Herberge des himmlischen Friedens mitten in der Kakaphonie des Straßenverkehrs von Marrakesch, hat Driss Nachtdienst. Er erzählt von seiner Heimatstadt Kenitra, von seinem Geburtsort Fès und von Marrakesch. Wir witzeln über die Mopedfahrer, die an jeder Ampel die Fußgänger erschrecken. Driss fährt Auto, aber das ist oft die Hölle in der dauerzugestauten Stadt. Ich kann mitreden, denn um mit dem Bus vom Place Jamaa el Fne zum Busbahnhof zu kommen brauchte es 20 Minuten. Für 4 Dirham (40 cents) standen wir mehr als dass wir fuhren.
"Marokko ist in der Transformation" sagt er. Vieles ist im Umbruch und in der Bewegung. Vor allem hier in Marrakesch, aber generell in den Städten. Auf dem Land ist es dagegen noch immer
traditionell." Für ihn beginnt gerade die Hauptsaison: "Die Touristen kommen, weil es jetzt nicht mehr so warm ist. Der Sommer war hart, wir hatten bis zu 50 Grad. Das war kaum zum Aushalten, da
kommen auch keine Touristen. Marrakesch lebt von den Touristen." (Weiter nach der Fotostrecke Marrakesch)
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Andreas Sabisch (Mittwoch, 30 Oktober 2024 19:50)
Danke für die eindrucksvollen Berichte, die ehrlich und gerade heraus dieses Land mit all seinen Gegensätzen beschreiben. Mein persönlicher Eindruck aus Marokko ist, dass es ein tolles Reiseland für Backpacker und Motorradfahrer ist. Zum Radeln taugt es aber eher nur wenig. So werde ich Ende November nochmal nach Fes fliegen und von dort mit Bus, Bahn und Taxi durchs Land reisen.
Dir wünsche ich eine gute Heimkehr und noch ein paar gute Erfahrungen an den letzten Tagen! LG Andreas
Torsten (Donnerstag, 31 Oktober 2024 15:12)
Hallo Hardy, danke für die tollen Berichte und schönen Fotos.
Herzliche Grüße und noch schöne restliche Tage in Marroko!
LG, Torsten
Thomas Häfner (Freitag, 01 November 2024 15:55)
Hallo Hardy, ich habe deine Marokko-Berichte begeistert mitgelesen. Vor allem deine Beobachtungen und Beschreibungen des marokkanischen Alltagslebens haben es mir angetan, weil ich darin so viel von "meinem" Marokko wiederfinde, das ich zusammen mit meiner Frau bei mittlerweile 5 Radtouren kennen und lieben gelernt habe.Am kommenden Montag beginnt unsere 6. Marokkoradtour. Unsere allereste Marokkoreise - mit Interrail und ohne Fahrrad - liegt auch schon 40 Jahre zurück. Damals sind wir nach drei Wochen entnervt vorzeitig abgereist, weil uns die "Hard Selling"-Methoden in den touristischen Hotspots auf Dauer zu anstrengend waren.Ich wünsche dir noch ein paar angenehme letzte Tage in Essaouira und Agadir, zwei aus meiner Sicht recht entspannten Städten.