Aït Ben-Haddou kommt standesgemäß als Filmkulisse daher. Aus der braun-gelben Weite des südlichen Atlas erhebt sich die kleine Oasensiedlung. Trumpfkarte ist ein
prächtig erhaltenes Lehmdorf (Ksar), das sich an einen Sandsteinfelsen schmiegt. Wie alt es ist vermag niemand zu sagen. Mit ihm lockt Aït Ben-Haddou die Touristen aus aller Welt. Das Lehmdorf
war u.a. in Lawrence of Arabia und Gladiator zu sehen. Es machte Aït Ben-Haddou weltbekannt.
Auf der anderen Straßenseite reiht sich eine Auberge nach der anderem, preisen Souvenirhändler ihre Waren an, weisen Einheimische die unaufhörlich Anreisenden in
Parkplätze ein. "Dix Dirhams, s'il vous plaît! Alles gut organisiert in Aït Ben-Haddou. Es ist voll, aber nicht so voll, wie ich es erwartet hatte. Im Restaurant klagt die Besitzerin ihr Leid:
"Es ist Hauptsaison, aber die Touristen kommen nicht. Vor allem die Individualtouristen bleiben weg. Und die Franzosen. Alle müssen sparen, überall ist das Leben teurer geworden. Also streichen
Sie den Urlaub". Für mich öffnet sie extra Ihre Dachterasse mit bestem Blick auf Aït Ben-Haddous Filmkulisse.
Marokkaner haben eigene Vorstellungen bezüglich der Herstellung einer Geschäftsbeziehung. Und die strengen mitunter an. Wenn man in einem touristischen Ort wie diesem
ohne Kaufabsicht unterwegs ist, empfiehlt es sich, niemanden direkt anzugucken, nicht mal mit einem halben Auge auf die ausgelegte Ware zu schauen und auf gar keinen Fall anzuhalten! All das
führt nämlich in sämtlichen Fällen unweigerlich zum Verkaufsgespräch, das immer harmlos beginnt. "Hey my brother" oder "my friend!" sind übliche Floskeln für alleinreisende Männer wie mich. "Ça
va?" geht auch immer.
Die Freundlichkeit dient als Einfallstor zum Verkaufsgespräch. Denn auf ein "ça va?" antwortet man nun mal freundlich. Und schwupp, hängt man am Haken. Ein besonders pfiffiger Marketingexperte deutete heute im Vorbeigehen auf meine Halskette und bat um einen näheren Blick. Sie zeigt die Sonne und stammt aus Uruguay. Er betrachtete sie kurz und meinte, er habe ganz tolle Anhänger in seinem Laden, ich solle doch mal mitkommen.
Der Abbruch einer solcher Verkaufanbahnungsabsicht fällt immer schwer, denn man kommt eigentlich nur mit rigoroser Verweigerung raus. Nicht mehr antworten, den Dialog verweigern, weggehen. Also unhöflich sein. Das hilft. Unschöner Nebeneffekt: Als Reisender entwickelt man eine gewisse Reserviertheit gegenüber allen Marokkaner, die einen ansprechen. Und darunter sind oft nette Leute, die ehrliches Interesse haben.
Wie diese Anbandlungstaktik wirtschaftlich erfolgreich sein soll ist mir ein Rätsel. Es mag eine gewisse Quote von Menschen geben, die etwas kaufen, um ihre Ruhe zu
haben (wobei in dem Fall das Handeln hinzukommt, noch etwas, womit Marokkaner großen Spaß haben!), die meisten aber eilen hier in Aït Ben-Haddou mit gesenktem Kopf durch die Gassen, ohne Kontakt
mit dem Käufer oder einen Blick auf die ausgelegte Ware.
Dabei könnte da ja durchaus mal was interessantes für einen Spontankauf dabei sein! Doch die offensive Gesprächsführung würgt den möglichen Kaufabschluss schon in der
Entstehungsphase ab. Beispiel: In Rabat sah ich im Vorbeigehen einen Becher des Fußballvereins Wydad in einem Konglomerat von Tassen. Ich stoppte kurz und ging in die Hocke, um genauer
hinzusehen. Sofort stürmte der Verkäufer herbei und zeigte mir dutzende von weiteren Tassen. Ich ließ den Wydad-Becher stehen und ging weiter.
Aber das ist eben Marokko, das erzählt uns jeder Reiseführer, und das ist irgendwie ja auch ganz lustig. Wobei ich wirklich gerne wüsste, ob es aus marokkanischer
Sicht tatsächlich erfolgreich ist.
Zur kurzen Etappe (32 km) und dem Verkehr gibt es nichts Neues zu sagen. Außer dass die Straße diesmal alt, entsprechend kaputt und noch schmaler als gestern war. Dabei ist es die Hauptverbindung zwischen Ouazarate und Marrakesch. Der gesamte Verkehr läuft hier rüber. Es ging hoch und runter, die Ausblicke waren durchaus sehenswert, doch die Aufmerksamkeit galt immer auch dem Überleben. Als ich nach 20 Kilometern endlich von der Nationalstraße runterkam und auf einer dünner befahrenen Piste weiterrollen konnte, war ich entsprechend erleichtert. Es sind übrigens nicht nur Marrokaner, die das enge Überholen üben. Heute waren auch Schweizer, Franzosen und Holländer dabei. Und jede Menge SUV mit Passagieren, die sicher nicht aus Marokko kamen.
Am Abend ist das Touristennest Aït Ben-Haddou wie ausgestorben. Alle sind zurück in ihren Luxusquartieren und schauen vermutlich Games of Thrones auf Netflix. Der Muezzin erinnert die Einheimischen daran, dass Allah groß ist. Dass seit Nachmittag böiger Wind durch die Wüstenoase zieht, bereitet ihnen aktuell allerdings mehr Sorge. Auf mein ça va? zum Abendcafé (natürlich läuft auch heute wieder Fußball) antwortet die Bedienung mit Leidensmine: "il est froid".
Auch ich hoffe, dass es nur ein Herbstintermezzo ist, denn morgen beginnt die Mission Gipfelsturm. 2.260 Meter hoch ist der Tizi-n-Tichka, und im Moment kommt der Wind genau aus der Richtung, in die ich muss. Wünscht mir Glück!