· 

Wechselvolles Marokko

Was ist das denn jetzt? Am morgen im Bilderbuch-Afrika losgefahren und zwei Stunden später in einer Stadt angekommen, die Erinnerungen an Südamerika weckt. Strenges Schachbrettmuster, das von breiten Boulevards durchzogen ist und die völlige Abwesenheit des wilden Chaos, das ich in bislang jedem nennenswerten marrokanischen Siedlungsraum vorfand. Stattdessen suche ich noch immer das Stadtzentrum und staune über moderne Architektur, große Krankenhäuser und auffallend wenig Müll auf den Straßen. Ouarzazate ist anders als alles, was ich bislang hatte und so ziemlich das Gegenteil von Skoura, wo ich gestern Abend nochmal einen tiefen Zug pures Afrika einatmen durfte.

Ein kräftiges Gewitter hatte die Region geflutet, und die Wassermengen flossen nur sehr zögerlich ab. Das verschärfte die abendliche Suche nach vegetarischer Kost, denn es war stockdunkel auf den von Pfützen und kleinen Seen übersäten Sandpisten. Ein Kunststück, dabei trockenen Fußes voranzukommen. Als respektablen Lohn fand ich eine nette Tajine Legume. Wie sich die Essenfrage im Hinterland ohnehin etwas entspannt hat, denn hier unten gibt es auch noch das wunderbare Berber-Omlett, das, gefüllt mit Tomaten und Zwiebeln, ziemlich lecker daherkommt.


Meine Unterkunft in Skoudra braucht nur ein Wort: großartig! "Dar Calme" schnappte sich aus dem Stand die Pole-Positon aller bisherigen Behausungen seit dem Tourstart. Das lag auch an der wunderbaren Gastgeberfamilie, die mich teilhaben ließ an ihrem Alltag und mir nebenbei die überfällige Klamottenwäsche abnahm. Der Betreiber, ein stolzer wie vornehmer Mann, lud mich zum Tee ein und entpuppte sich als weltgewandt und aufgeschlossen. Dass das Leben in Skoudra nicht seinem Traum entspricht verriet der Blick, als ich nach einem Spaziergang zurückkehrte und kundtat, Skoudra sei aber schon etwas speziell. Er lächelte mühsam und wünschte sich vermutlich nach Marrakesch oder Casablanca.

Zum Frühstück, auch das 1a-Premium, knipste er einen Marokko-Werbefilm an. Zu einfühlsamer Klaviermusik gab es anmutige Sequenzen der schönsten Seiten des Landes. Drohnen flogen über die Küste und zeigten perfekte Orte. Chefchaouen kam natürlich vor, wie auch Merzouga und der unvermeidliche Dromedarausflug in die Wüste. Wer das Filmchen sieht will sofort nach Marokko, so schön ist es dort. Was der Film nicht zeigt? Die Wahrheit! An den Stränden lag keine einzige Plastikflasche, flatterte keine Einkaufstüte im Wind, gab es keine wilde Müllkippe. Nicht mal Menschen waren zu sehen, und wenn, dann nur schöne bei coolen Tätigkeiten wie Windsurfen. Eine heile Welt!
Auch die Städtebilder wirkten wie gephotoshopt. Kein einziges Auto fuhr über die Straßen, kein knatterndes Motorrad war zu hören, kein rumpeliger Bus war zu sehen, kein auseinanderfallendes Transporter-Taxi. Alles war heil, sauber, sonnig, fröhlich, entspannt. Traumurlaub!

Und Fake News auf höchstem Niveau!

Dass die Angst beim Radfahrer in diesem Land oft mitfährt, zeigte auch die heutige Etappe. Die erste Stunde lief sehr entspannt. Ein Radstreifen stand zur Verfügung, der die Pufferzone vergrößerte. Man muss zwar ständig auf Scherben achten (eigentümlicherweise fast ausschließlich kaputte Bierflaschen, die man hier nur hinter zugezogenem Vorhang kaufen kann) und den Gegenverkehr mit mindestens einem Auge im Blick haben, es ist aber halbwegs entspannt. Dann war Schluss mit Radweg und die Gefahrenzone öffnete ihre Pforten. Sofort rasten sie wieder in Handtaschenbreite an mir vorbei. Gestern im Bus konnte ich das mal von oben beobachten, wie eng Zweiradfahrer tatsächlich überholt werden. Und dann natürlich der Gegenverkehr. Da warten die wirklichen Killer. Kommt mir ein LKW entgegengezockelt, hinter dem ein paar PKW feststecken, kann ich drauf wetten, dass irgendeiner sein Glück versucht und trotz Radfahrer überholt. In einem Fall sogar in einer Situation, als es nicht mal einen Seitenstreifen gab, auf den ich ausweichen konnte. Ich konnte die Panik in den Augen des Fahrers erkennen, als er in Höllentempo an mir vorbeischoss. Immerhin telefonierte er nicht auch noch.


Und jetzt Ouarzazate. Eine eigentümliche Stadt. Hochburg der Filmindustrie. Hier haben die großen Firmen und Global Player ihren Sitz, hier wurden epische Streifen wie Lawrence von Arabien, Die Bibel, James Bond - Der Hauch des Todes und Gladiator gedreht. Allen voran aber Games of Thrones. Morgen kurble ich zum Epizentrum der Branche nach Aït Ben-Haddou, ein Wüstennest, das vielen Streifen als Kulisse diente. Wenn ich den Recherchen glauben darf werde ich da ziemlich viele bekloppte Fans von Games of Thrones treffen, die auf den Spuren ihrer Helden unterwegs sind.


Der Abend in Ouarzazate hinterlässt weitere Rätsel über diese Stadt, die komplett zersiedelt scheint. Ein Zentrum ist nicht auszumachen. Selbst am Busbahnhof fehlen die üblichen Buden mit Billigpizza und Co. Über eine halbe Stunde irre ich durch die Gassen, ehe ich eine Lokalität finde, die vegetarische Tajine anbietet. Hatte ich zwar gestern schon, aber hey wer wird denn wählerisch sein?


Abschließend zu einem Thema, mit dem mich viele sicher verbinden: Fußball. Seitdem ich in diesem Land unterwegs bin, und das sind nun weit über fünf Wochen, habe ich keinen Abend gehabt, an dem KEIN Fußball in den Bars lief. Europa, Spanien, Marokko natürlich, was weiß ich nicht alles. Jetzt läuft grade Manchester United gegen irgendwas. Und wisst ihr was: es geht mir mächtig auf den Senkel! Kein Abendcafé ohne Fußball - das nervt. Aber es gibt hier kein Entrinnen. Fußball läuft überall.


Wenn ich zurückdenke, wie verrückt ich früher nach Fußball war und wie gleichgültig mir das alles heute ist... Damals waren es besondere Momente. Auxerre gegen Dortmund - dafür bin ich verzeifelt durch die Verdon-Schlucht geirrt auf der Suche nach einer Bar, die es zeigt. Oft habe ich meine Reiserouten danach geplant, dass am Spieltag ein Campingplatz mit Fernseher stand. Eben weil es besondere Momente waren.


Jetzt kommt mir der tägliche und dauerpräsente Fußball komplett austauschbar vor, und die künstliche Erregtheit des arabischen Sprechers hat etwas grotesk Absurdes. Allzu viele Leute sitzen übrigens selten vor den allgegenwärtigen  Bildschirmen. Fußball läuft so ein bisschen wie die Hintergrundmusik im Supermarkt. Was ein Abstieg.


Kommentar schreiben

Kommentare: 0