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Tausche Esel gegen Schiff

Das Kurzzeitgedächtnis ist eine feine Sache. Es lässt vergessen. Gestern in der unerträglichen Kakaphonie Rissanis, heute in der ungreifbaren Ruhe der Wüste. Dazu musste ich meinen Drahtesel nach rund 35 Etappenkilometern in Merzouga nur gegen ein Wüstenschiff eintauschen. Das brachte mich dann im Schaukelritt über die Erg-Chebbi-Düne in die Sahara, wo ich die Nacht verbrachte.

Ich war dabei allerdings nicht alleine, denn aus allen Winkeln machten sich weitere Karawanen aus Bewohnern der Komfortzone auf den Weg, um dem Sonnenuntergang beizuwohnen, der in der Wüste bekanntlich am schönsten ist.



Wirkliche Ruhe herrscht in der Wüste ohnehin nicht. Zumindest nicht in Merzouga. Allerlei motorisiertes Gefährt vergiftet die Reinheit durch Lärm und Gestank. Und auch im Wüstencamp, nach zwei Stunden auf dem Dromedar erreicht, herrscht keinesfalls pure Stille. Zur Bespaßung des Publikums entlocken ein paar Berber bei Lagerfeuer Trommeln exotische Töne und singen einlullende Lieder. Merzouga ist ein Touristen-Hotspot, da gehört das zum Programm.

Das Wüstencamp erstaunt. Elektrisches Licht, 4G-Empfang, Toiletten mit Wasserspülung und Zelthütten mit Steckdose. Das hatte ich mir romantischer vorgestellt. Aber Romantik und Massentourismus passen nicht zueinander, und insgesamt ist das alles schon sehr stimmig organisiert und die Erfahrung allemal wert.

Die absolute Ruhe der Wüste, wie ich sie 2011 auf der Tour d'Afrique im Sudan und in Namibia erlebt habe, vermisse ich dennoch. Wie auch den ungestörten Sternenhimmel, der durch die elektrische Camp-Beleuchtung getrübt wird.

Ruhe wurde mir zum Grundbedürfnis, nachdem ich mit Mitte 20 für ein paar Jahre in der Göttinger Innenstadt gelebt hatte. Da gab es nur ein kurzes Zeitfenster der Stille am Sonntagmorgen. Kaum war ich ausgezogen, wurde ich zum Ruhesuchenden, und hätte es einen Studiengang "Ruheforscher" gegeben, ich hätte ihn belegt. So wurde ich Geograph und ging in meiner Freizeit auf der ganzen Welt auf die Suche nach der Stille. Bei einer Wanderung auf Madeira fand ich erstmals einen Ort der totalen Stille, der mir zum Maßstab wurde. Ruhe bedeutet für mich vor allem die Abwesenheit von technischen Geräten sowie zeittotschlagenden menschlichen Aktivitäten. Stille ist verdichtetes Jetzt, weil nichts vom Augenblick ablenkt.

Aber ich schweife ab, sorry, denn mit einer internationalen  Touristengruppe auf Dromedaren in die Wüste zu marschieren führt natürlich ohnehin nicht in die Ruhe. Schön ist es trotzdem, und zudem ein wunderbarer Kontrast zum Rowdytag in Rissani. (weiter nach der Fotostrecke)

Die 35 Kilometer der Etappe zwischen Rissani und Merzouga zogen sich unerwartet lang. Zwar verwandelte sich die Steppe langsam in Wüste, tauchten irgendwann die ersten rotgelben Dünen am Horizont und die ersten Kamele neben mir auf, doch die Straße verlief schnurgerade und ziemlich langweilig. Das ist eine interessante Herausforderung auf dem Rad. Ich erinnere mich an Botswana 2011, als wir auf Hunderten von Kilometern keine Kurve hatten, geschweige denn abbiegen mussten. Damals musste ich aufpassen, nicht auf dem Sattel einzuschlafen.


Merzouga ist eine uralte Oase aus der Zeit der Karawanen, die sich dem Wüstentourismus hingegeben hat. Immerhin gibt es ein Fußballstadion, was auf sesshafte Einheimische deutet. Das Spielfeld besteht allerdings aus hartgebackenem Sand. Aua!


Der Alltag auf den Straßen und in der Handvoll Cafés und Restaurants dreht sich nur um Touristen, und das heißt in Marokko meistens nichts gutes. Die Angebote für Dromedar-Wüstenritte, Ausflüge auf dem Quad oder dem Geländewagen reißen folglich nie ab, egal wo der Komfortzonenbürger auch auftaucht. Und ein Nein wird nicht akzeptiert, sondern beharrlich bekämpft. Niemand hat schließlich gesagt, dass es einfach wird.


Die Häusersammlung besteht aus ein paar Asphaltstraßen, an denen die Luxushotels liegen. Links und rechts davon zeigt Marokko sein Dritte-Welt-Bild: Schlamm- bzw. Sandpisten, Müll, zerbröselnde Gebäude, Tristesse. Dieses Land ist ein ständiges virtuelles und emotionales Auf und Ab.


Merzouga ist Berber-Region. Schöne, stolze Burschen mit deutlich dunklerer Hautfarbe und jenen klassischen Turbanen, die in jedem Wüstenepos zu sehen sind. Sie sprechen eine Sprache, von der ich nichts verstehe, sie strahlen enorme Ruhe und Gelassenheit aus und wirken insgesamt deutlich aufgeschlossener für Spaß und Freude als die Araber. Frauen sehe ich ebensowenig wie in den arabischen Siedlungsräumen. Auch die Berber sind eine männlich dominierte Kultur.


Bei den Touristen aus der Komfortzone sieht es etwas gemischter aus. Angesichts des hochmotorisierten Angebots vor Ort dominieren allerdings Männer im besten Alter (und darüber), die großen Spaß darin finden, mit einem Quad die Sandhügel hochzupeitschen und die offenbar mal so richtig die Sau rauslassen wollen.


Unsere Wüstentour-Touristengruppe war deutlich weniger PS-gesteuert, wir wählten vermutlich nicht umsonst das Dromedar als Transportmittel. Ich saß mit einer fröhlichen Familie aus Spanien (Papa Dino hatte Wein dabei!), zwei jungen Italienern und einer Familie aus Neuseeland am Abendessentisch (vegetarische Tajine!). Wir hatten viel Spaß miteinander und waren uns einig, dass Marokko ein eigenartiges Land ist. "Es gibt wenig wirklich schöne Ecken, und auch historisch ist es nicht so spannend", sagten die Neuseeländer, die auf einer Europa-Tour sind und bereits in Griechenland, der Türkei und Italien waren. Die Spanier amüsieren sich über die Polizei, die überall Geschwindigkeitskontrollen durchführt. "Die machen ein Foto, sonst nichts. Und dann musst du mit ihnen handeln. Bei 400 Dirham geht es los, meistens kommst Du mit 200 davon. Als Quittung bekommst Du ein unbeschriebenes Blatt Papier". Die beiden Italiener erwischte es sogar, obwohl sie die Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten hatten.


Niemand war wirklich begeistert vom Land, was mich etwas beruhigte, denn meine zurückhaltende Wahrnehmung scheint nicht exklusiv zu sein. Tags darauf bestätigt Marokko seinen Ruf. Um 5:40 Uhr gibt es Frühstück, denn um 6 Uhr ist Aufbruch auf den Dromedaren. Wir wollen schließlich den Sonnenaufgang miterleben! Allerdings marschiert unser Guide dann einfach durch, statt für Fotos anzuhalten, wie es die anderen Gruppen tuen. Insofern haben wir die Sonne im Rücken, als der Tag beginnt und sehen nix. "Wir haben keine Zeit", heißt es auf Nachfrage. Dafür, dass der Sonnenaufgang ein Highlight jeder Wüstentour ist und wir um halb Sechs aufgestanden sind eine ebenso dünne wie typisch marokkanische Begründung. 


Dieses Land steckt eben voller Überraschungen.


Zum Schluss noch eine Szene, die verdeutlicht, wo die Unterschiede zwischen unserer geregelten und von Vor- wie Umsicht geprägten Saftey-first-Welt und dem Alltag hier verlaufen: Papa und Sohn rollen auf einem Motorrad an. Papa hat Sohn, vielleicht sechs Jahre alt, auf dem Schoß. Das ist ganz normal im Marokko (und nicht nur da) und würde dem Vater bei uns ne saftige Strafe einbringen. Aber es geht noch weiter! Nach fünf Minuten kommt der Sechsjährige alleine zurück. Steckt den Schlüssel ins Zündschloss, wirft die Maschine an und springt, bereits im Wegfahren, lässig auf den Sattel. Da sitzt er dann zwar quer drauf, saust aber dennoch in hohem Tempo davon. Wo Papa ist, weiß ich nicht.

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