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Radweg in die Wüste

Rissani ist eine Stadt der Radfahrer. Überall wuseln sie auf Zweirädern durch die Straßen der Kleinstadt, in der gleich zwei Radwerkstätten wahre Wunderwerke verbringen. Vor beiden stapeln sich schrottreife Räder und warten darauf, wieder in funktionsfähige Konstrukte verwandelt zu werden.


Der Bedarf an gebrauchsfähigen Rädern ist hoch in Rissani. Die Topografie ist flach und das Geld knapp. Wann immer ich irgendwo stoppe kommen Kinder angelaufen und sagen mit ausgestreckten Hand ein einziges Wort: "Dirham". Dass weder sie noch ihre Kleidung aussehen, als würden die Dirhams in der Familie tatsächlich knapp sein klärt sich meistens recht schnell, denn es ist eher ein Spiel, das mit den Touristen aus der Komfortzone gespielt wird.


In Rissani erreicht das kulturelle Niveau meiner Tour dennoch einen neuen Tiefpunkt. In einem Café beschäftigen sich gleich drei junge Menschen mit meinem auf Französisch formulierten Wunsch "un tee à la menthe, s'il vous plait". Nach einiger Diskussion, ich will schon Google translate bemühen, scheint dann alles geklärt und das Trio marschiert zur Zubereitung hinter die Bar. Kurz darauf stellt man mir einen Kaffee auf den Tisch und straft mich mit empört-vorwurfsvollem Blick (das können sie in Marokko teilweise wirklich ausgezeichnet!), weil ich mit dem Kopf schüttle.


Ich bin ja durchaus weitgereist und auch nicht zum ersten Mal in Afrika, aber Marokko fordert mich. In meinem Reiseführer, dem Reise Know-how von Astrid und Erika Därr, der wirklich bemerkenswert gut ist, heißt es im Vorwort: "Marokko polarisiert - nach der ersten Reise heißt es oft 'einmal und nie wieder' oder 'einmal und immer wieder'". Ich werde wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit zur ersten Fraktion gehören.


Ich finde Marokko oft anstrengend, viel zu selten "schön" und insgesamt bemerkenswert unfröhlich. Es ist nicht so, dass die Leute nicht lachen oder fröhlich miteinander sind. Das tun sie! Ich glaube, es ist vor allem das ungezwungene Miteinander zwischen Männern und Frauen, das mir fehlt. Der öffentliche Raum - und damit auch mein Kontaktraum - ist fast ausschließlich männlich geprägt. Man sieht quasi keine gemischte Gruppen. Männer machen ihr Ding, Frauen machen ihr Ding. Sie werden gewiss Freude dabei haben, sie werden bestimmt ihr Leben lieben. Denn die "Freudlosigkeit" ist ja nur meine Interpretation, einem Beobachter aus der Komfortzone, die natürlich auch bei mir mitreist und den Blick auf die Wahrheit verschleiert. Wobei: im Afrika südlich der Sahelzone waren es oft gerade die Frauen, mit denen sich der fröhlichste Kontakt ergab. Irgendwo in "Tour d'Afrique" sind dazu ein paar Absätze, schrieb ich, dass der Alltag dort vor allem durch Frauen funktioniert.


Hier bleibt es dabei: Marokko hinterlässt mich ratlos. Das tut mir leid für euch da draußen an den Bildschirmen, denn ihr wollt ja Heldengeschichten und wilde Abenteuer, und nicht einen Reisenden, der aus der Suche nach der Reise einfach nicht rauskommt. Dass ich keinen durchschlagenden Zugang zum Land finde liegt natürlich nicht in Marokkos Verantwortung, sondern ist vermutlich mein Defizit. (weiter nach der Fotostrecke)

In all meinen Reisen über vier Jahrzehnte ist mir das allerdings noch nie passiert. Schon gar nicht in Afrika, einen Kontinent, mit dem ich mich eigentlich verbunden fühle. Ich spüre Afrika, ich rieche Afrika, ich sehe Afrika. Und vermisse Afrikas Leichtigkeit und Lebensfreude. In den Bars läuft Fußball in Dauerschleife statt Reggae oder African Musik. Wenn ich winkend an Kindergruppen vorbeiradle, bekomme ich maximal schüchterne Grüße zurück. Sind die Kinder schon älter, passiert entweder gar nichts oder die Burschen stürmen wüst los und fangen zehn Meter vor mir an zu rufen "un Dirham, un Dirham".


Zu den großen Lehren meiner Afrikadurchquerung 2011 gehört, dass ich die Kinder sehen muss, um Spaß zu haben. Dass ich mich von meiner "europäischen" Perspektive befreien muss, von meinem Anspruchsdenken, meinen Erwartungen und auch meinen Eitelkeiten. Um das Bild aus den Augen der Kinder zu sehen und zu verstehen, was es bedeutet, wenn da plötzlich ein exotischer Mann auf einem Fahrrad auftaucht. Kinder wollen gesehen werden und in Kontakt treten. Diese Lehre habe ich verinnerlicht und mit Erfolg auch in Albanien, Bolivien, Bosnien etc. angewandt. Ich grüße, ich winke, ich mache "high five", ich klatsche aus dem Sattel ab. Ich nutze alle Sprachen, die ich kann. Eigentlich ein bewährtes Programm. Hier - funktioniert es nur selten, bleibt es meist bei schüchternen Blicken oder Winken. 


Was ist anders?

Bin ich es?

Die Reise geht weiter, und damit auch die Erfahrungen. 


Anderes Thema: Verkehr. Die vierzig Kilometer zwischen Aoufus und Erfoud heute waren die reinste Horrorshow. Dabei hatte es wunderbar mit einem nagelneuen Radweg hinter Meski begonnen, der in die Wüste führte und mich gefahrlos dahingleiten ließ. Als die Ausbaustrecke hinter einem Aussichtsplateau endete, reduzierte sich mein Spielraum wieder auf Handtaschenbreite und der Horror begann. Schlagartig war ich unsichtbar. Oder vielleicht auch nur unwichtig. Wie viele Autos urplötzlich aus dem Gegenverkehr ausbrachen und mir auf meiner Spur entgegenrasten kann ich jedenfalls nicht sagen. Ich habe nicht mitgezählt. Zigfach musste ich in den Graben springen, um zu überleben. Denn wenn dir ein Auto mit 120 km/h auf deiner Spur entgegenkommt geht es um nichts anderes.


Bei Radfahrern geht man in Marokko davon aus, dass sie im Bedarfsfall von der Straße verschwinden. Auf dem Seitenstreifen kann man jedoch nicht fahren, zumal er voller Scherben ist. Beschwerden von verwöhnten Radtouristen aus der Komfortzone werden nicht entgegengenommen, zumal viele Autopiloten nebenbei meistens ihr Handy beim Wickel haben. Das waren heute jedenfalls die übelsten 40 Kilometer seit Nairobi 2011.

Das bringt mich zum Nachdenken. Denn bei allem Abenteuer und "Jenseits der Komfortzone" wandeln: vor allem will ich heile zurückkehren.


Zur Etappe: 95 Kilometer, mittendrin ein kleiner Huppel, sonst meistens mit ein Prozent bergab. Weil der Wind aus Südost kam fraß er den dadurch möglichen Schwung zwar auf und es fühlte sich anstrengend an, am Ende stand dennoch ein erstaunlicher 25er Schnitt. Wobei ich die Etappen natürlich nicht durchfahre, sondern ständig für Fotos anhalte und auch mindestens einen Minz-Tee-Stopp mache. Die Landschaft war aus der Kategorie "geht so". Nichts zu sehen von den funkelnden Wundern aus dem nördlichen Ziz-Tal. Von der erwähnten Aussichtsplattform gab es einen netten Blick auf eine Datteloase, und die hier üblichen Lehmhaussiedlungen warfen hin und wieder exotisches Flair ins Bild. Meistens aber umgab mich flache Steppe, die langsam in Wüste überging. Nach zehn Minuten hatte ich mich sattgesehen.


Dafür prägten zwei andere Dinge das Bild: Zum einen Wüstentouristen in 4x4-Kutschen, rüde lauten Sandkarrren, Motorradfahrergruppen oder umhergekarrt in klimatisierten Bussen. Letzteres betraf vor allem Asiaten, bei denen überproportional viele mächtig aufgedonnerte weibliche Personen dabei waren, die ständig nach dem nächsten Spot für das perfekte Insta-Bild suchten. Zum anderen Flüchtlinge aus dem südlicheren Afrika. Schon in Errachidia standen viele an den Straßenkreuzungen und sammelten während der Rotphase Spendengelder ein. Hier in Rissani laufen sie von Bar zu Bar und lassen sich ein paar Dirham geben. Es ist wahrlich eine Tour durch die Realitäten unserer globalen Gegenwart, auf der ich unterwegs bin.


Zum Abend besorgten meine Gastgeber Berber-Pizza. Ein Riesengerät! Es sieht aus wie Brot, ist aber gefüllt mit Gemüse (gibt es natürlich auch mit Fleisch). Dazu wird Tee gereicht, denn "die Pizza ist sehr scharf. Tee dämpft das, mit Wasser bekommst Du Magenprobleme". Es schmeckt zauberhaft, ist aber trotz 95-Kilometer-Etappe viel zu viel. Also trage ich die verbliebenen Stücke zur anderen Straßenseite, wo sich Rissani weniger Privilegierte freuen.


Dann ruft Allah zum Gebet, und aus dem Bürgersteig wird eine provisorische Moschee. Immer mehr Männer kommen zusammen und stellen sich in Reihe auf. Einer beginnt, Koran-Verse vorzutragen. Die Gruppe geht auf die Knie. Um sie herum tobt der Verkehr, ist es laut und stinkt. 


Der anschließende Spaziergang durchs Zentrum gerät zur Kontaktbörse. Alle wollen was vom Reisenden. Ich komme keine zwei Meter, dann steht der nächste vor mir. Will etwas verkaufen, etwas anpreisen, erwartet eine Antwort auf sein "ça va?". Es sind - natürlich - ausschließlich Männer. Als ich nach einigen Begegnungen etwas unwirsch reagiere, werde ich aufgefordert, zu entspannen. Mag ja sein, aber wie geht entspannen, wenn man ständig eingespannt wird? Und um Gaben gebeten wird? Ich flüchte in ein Café. Nach drei Sekunden steht ein Kerl vor mir. Gepflegt, gut gekleidet. "Gib mir einen Kaffee aus", fordert er. Ich verschwinde ins Hotel und schiebe Rissani auf der Liste der schrecklichsten Orte meiner Reisebiografie nach oben.