Auf nichts ist Verlass! Noch nicht einmal auf die eigenen Vorurteile! "Agadir wird schrecklich sein, also gehe ich lieber in einen kleinen Vorort und habe es fein dort". So war meine Erwartungshaltung.
Doch Marokko überrascht immer wieder. War Oualidia schon eine Enttäuschung, erwies sich Anza sogar als Totalausfall. Ein ziemlich runtergerocktes Viertel nördlich von Agadir am langen Sandstrand, auf dem Hunderte von Autos parken und das sich ganz dem Surftourismus gewidmet hat. Auch meine vorgebuchte Unterkunft warb mit "Surf House". Okay, ich kam spät an, es war Regen in Sicht und es wurde grade dunkel. Ich wollte eine Dusche und dann was essen. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, dass weder Anza noch die Herberge der perfekte Ort für einen Pausentag mit Radpflege war. Das Zimmer winzig und mit dem einzigen Fenster zur Gemeinschaftsterrasse. Die Dusche ein Abenteuer (das ist in Marokko oft so), das Klo ohne funktionierende Wasserspülung. Ich ahnte, dass es hier nicht einfach werden würde. Das Personal riss es zunächst raus. Furchtbar nett und hilfsbereit. Darunter eine Voluntärin aus Deutschland, mit der ich gemeinsam das WLAN-Passworträtsel löste (auch typisch für Marokko), während der Hauschef die Klo-Spülung zuverlässig wieder in Gang brachte. Alles gut?
Nach der Dusche machte ich mich auf die Suche nach Nahrung. Vegetarischer, was ja, ihr wisst es längst, eine Herausforderung ist in Marokko. Ich fand ein winziges Restaurant mit Pasta und Pizza. Hurra, endlich mal wieder Pizza Vegetaria oder Pasta Fromage! Ich entschied mich für die Nudeln. 25 Dirham, keine 2,50 Euro. Es kam ein Topf verkochter Teigbrei mit ein paar Spuren Streukäse obendrauf. Gemeinsam mit diesem Galadinner kam der Regen, auf den hier niemand wirklich vorbereitet ist, denn es regnet in Agadir einfach wirklich selten. Kurzerhand wurde mein Tisch vom Fußsteig in die Küche getragen und ich aß zwischen einem Fleischgrill und den wuselnden Köchen. That's Africa! - und das ist an dieser Stelle eine einzige Liebeserklärung an die afrikanische Seele und Fähigkeit, immer eine Lösung zu finden!
Zurück in der Unterkunft waren inzwischen zwei Dinge eingetroffen: eine Gruppe junger spanischer Surfer und natürlich der Regen. Während jener auf der Terrasse mangels Abfluss nicht abfloss, weil ... es regnet hier halt nicht so oft ... lümmelten sich die spanischen Surferbuben bereits auf der Gemeinschaftsterrasse neben meinem Zimmer und taten das, was junge Menschen so tun: sie unterhielten sich lautstark und verbreiteten mit Dampfunterstützung süßliche Gerüche. Das war der Moment, an dem ich wusste: das wird hier nix mit einer ruhigen Nacht und gutem Schlaf.
Also losstiefeln und nach Alternativen suchen. Um inzwischen halb 9 im Regen von Anza. Die erste Auberge (ein "Surfer House" ;-)) bot mir einen Raum ohne Fenster an. Auch das typisch für Marokko, für mich Frischluftfanatiker aber nach einigen schlechten Erfahrungen auf dieser Reise inzwischen ein no-go. Gegenüber im Haus sei möglicherweise noch was frei, meinte der ebenfalls furchtbar nette Gastgeber und schickte mich zu Ali. Der war nicht daheim, aber seine Frau war auf Zack. Ein Zimmer mit Fenster zum Meer könne sie bieten. Für 350 Dirham. Das war ein stolzer Preis, da hatte ich für deutlich weniger schon ganze Apartments in Marokko bekommen. Und sie hatte lediglich ein schlichtes Zimmer mit Klo/Dusche auf dem Flur und Küche im Angebot. Aber einem Fenster und die Aussicht auf Ruhe. Ich schluckte, sagte okay und holte ein paar Sachen aus meiner ersten Unterkunft. Nun hatte ich gleich zwei Übernachtungsplätze in Anza!
Dass der Atlantik nicht das Mittelmeer ist weiß ich. Und ich weiß natürlich auch von den Atlantikwellen. Doch ich hatte den Lärm, den das alles macht, bei der Zimmerbesichtigung konsequent ausgeblendet. Die Strafe folgte auf dem Fuße. Kaum lag ich im Bett fand ich mich gefühlt auf dem Mittelstreifen einer dichtbefahrenen Autobahn wieder. Ein Höllenlärm, der niemals aufhörte. Fenster zu brachte nicht viel (Einfachverglasung). Ohropax aber half! Also Augen zu und durch. Leider gibt es Ohropax nicht für die Nase. Irgendwann in der Nacht stank es nämlich plötzlich fürchterlich nach gegrilltem Fisch. Als in meinen Eingeweiden die ersten Drehungen begannen schloss ich das Fenster doch.
Und war ziemlich froh, als die Nacht vorbei war und ich meinen inzwischen gefassten Notfallplan in die Tat umsetzen konnte: ins "schreckliche" Agadir radeln und dort eine Unterkunft suchen, die mir zudem die Campingausrüstung bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland abnimmt. Ich war mit großer Skepsis unterwegs und landete sofort einen Volltreffer. Nun residiere ich in einem kleinen Apartment mit Balkon keine 500 Meter vom Strand, mein überschüssiges Gepäck lagert sicher verstaut im Hotelkeller und ich habe eine passende Unterkunft für die letzten Tage der Reise in Marokko, wann immer die auch kommen mögen, in denen ich mein Fahrrad demontieren kann, um es flugbereit zu machen. Das ganze Apartment kostet übrigens nur 285 Dirham die Nacht.
So ist Afrika: an einem Tag am Boden zerstört, am nächsten Tag gemütlich am Strand liegend und (erstmal) sämtliche Sorgen vergessen! (weiter nach der Fotostrecke Anza)
Um das gleich zu klären: Nein, Agadir ist weder schön noch hat es Charme. Aber die Stadt hat eine angenehm entspannte Atmosphäre, die ich dieser Bettenburg für die Bewohner der Komfortzone niemals zugetraut hätte. Die Preise sind leicht höher als anderswo, aber im Rahmen, die Stimmung relaxed. Soviel zu Vorurteilen und so.
Im Strandcafé sitzend empfinde ich die Atmosphäre sogar ansprechender als im Surferparadies Anza, das irgendwo zwischen Dritter Welt und Coolness lebt. Junge Leute aus aller Welt und Einheimische, die daraus ihren Nutzen ziehen. Das Preis-Leistungsverhältnis bei den Unterkünften ist schief (ich kann mitreden, ich hatte ja zwei), für den wunderbaren Msemen-Pfannkuchen zahlte ich 5 Dirham (normalerweise gibt es den für maximal 2), und mir schien (in den wenigen Stunden, die ich da war), dass die Surfer-Gemeinde eine eigene Bubble bildet und sich darin dann nicht wirklich vom Pauschaltourismus Agadirs unterscheidet. Kann aber sein, dass das ein Vorurteil ist ;-)! Jedenfalls lasse ich während meines weiteren Aufenthalts in Marokko definitiv die Finger von "Surferhochburgen". (weiter nach Fotostrecke Agadir)
Jetzt habe ich so viel von meiner Unterkunftsfrage erzählt, dabei gäbe es noch viel mehr zu berichten. Es wird wohl doch wieder ein Buch am Ende dieser Reise stehen müssen...
Ein paar Dinge will ich aber zumindest noch ansprechen. Zum Beispiel das unterschiedliche Wärmeempfinden. Während ich jeden Tag zwei Shirts durchschwitze, haben die Marokkaner bereits die Wintersachen rausgeholt und tragen bisweilen sogar Daunenjacken! Es sind übrigens um die 26 Grad, in der Sonne fühlt es deutlich wärmer an.
Und auch über Safi muss ich ein paar Worte verlieren. Manch besuchter Ort ist bei mir ja nicht so gut weggekommen. Safi hingegen fand ich erfrischend cool und authentisch. Eine junge Stadt mit mehreren Universitäten, die optisch auch keine Schönheit ist, aber über Charisma verfügt. Ein Ort, an dem man sein mag. Auffällig die vielen Fußballgraffitis, aus denen großer Stolz auf die Heimat spricht. Safis Szene ist ja mit Jenas befreundet, falls hier also jemand aus der Zeiss-Stadt mitliest möge er/sie doch bitte mal einen erläuternden Kommentar hinterlassen.
Die 65 Kilometer von Oualidia nach Safi waren übrigens die bislang härteste Etappe. Auch das kam überraschend. Denn es standen nur 430 Höhenmeter an; die meisten zudem auf den ersten 20 Kilometern. Als sie vorbeiwaren hatte ich ein Durchschnittstempo von 14 km/h und konnte es kaum glauben. Das lag auch an Straßenbauarbeiten, die mich wiederholt ausbremsten (es geht bald vierspurig Richtung Süden) und einer insgesamt ziemlich kaputten Asphaltdecke. Auf dem Scheitelpunkt der Etappe angekommen freute ich mich dann auf das Kap Beddouza, über das ich im Reiseführer schöne Worte gelesen hatte. Leider war nichts zu sehen, denn mich umgab dichter Nebel, der mein Tempo weiter reduzierte. Am Ende stand ein besserer 16er Schnitt, wo ich einen 20er erwartet hatte, und ich war ziemlich durch mit meinen Kräften. Marokko, das Land der Überraschungen.
Für mich geht's nun im Landesinneren weiter. Montagabend um 22 Uhr besteige ich den Nachtbus nach Fès, von wo aus es (ebenfalls per Bus) nach Azrou oder Midelt weitergeht (entscheide ich spontan), ehe ich wieder in den Sattel steige und den Hohen Atlas sowie die Sahara in Angriff nehme. Mal schauen, wie das mit den Erwartungshaltungen so weiter läuft.
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Elke (Dienstag, 15 Oktober 2024 20:57)
Lieber Hardy, bleib neugierig und lass dich nicht unterkriegen!
Die marokkanischen Katzen gefallen uns…..