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The real Marokko

Dies ist keine Vergnügungsreise und auch kein Abhaken von im Reiseführer empfohlener Orte. Dieses ist möglicherweise eine Bildungsreise, denn ich will das Land sehen, wie es ist. Nicht nur in seinen schön herausgeputzten Details, sondern in seiner ganzen Breite der Realität. Das ist mitunter fordernd, denn die letzten Tage brachten wenig Erbauliches für Augen und Seele.

 

Casablanca entpuppte sich als das, was in den Reiseführern über die Stadt erzählt wird: ein Moloch, in dem man als Tourist nicht mehr Zeit als nötig verbringen sollte. Eine gewaltige Menschenansammlung aus Beton mit Dauerbeschallung durch den irrwitzigen Verkehr. Bei genauerem Hinschauen fielen dann die Unterschiede auf. In Maârif, wo sich meine Unterkunft befand, solider bürgerlicher Mittelstand mit entsprechenden Einkaufs- und Restaurantoptionen. Auf dem Weg ins Stadtzentrum reihten sich Nobel-Boutiquen, Autohändler und Schmuckgeschäfte. Alle mit reserviertem Parkplatz vor der Tür, wo dienstbeflissenes Personal wartete, um dem umsatzstarken Kunden zur Hand zu gehen.

 

Im Stadtzentrum kippte das Bild. Die Medina in fürchterlichem Zustand. Das war Afrika, wie ich es aus den Ländern des Südens kenne: Garküchen, Wellblechhütten als Shops, der Geruch von gegrilltem Fleisch, auf den Gassen undefinierbare Flüssigkeiten und überall die Rufe der Händler, die auf Arabisch auch in der vierten Woche im Land noch immer ungeheuer exotisch klingen. Viele Schwarzafrikaner waren unterwegs, die Französisch sprachen und deutlich machten, dass Marokko auf der Fluchtroute aus dem Süden liegt.

In der Neustadt gegenüber vermischten sich verfallene Kolonialarchitektur mit modernen Fassaden, die vor allem aus Glas bestehen. Die Begegnung der beiden Lebenswelten Marokkos erfolgt dort frontal. Ich saß in einem Straßencafé, und ungefähr im 30-Sekunden-Takt kam jemand vorbei und wollte etwas verkaufen oder gleich ein wenig Kleingeld.

 

Danach ging es raus mit dem Bus zum Stade El Arbi Zaouli, wo Raja Casablanca wegen des Umbaus des Stade Mohamed V seine Heimspiele austrägt. Fast eine Stunde waren wir unterwegs, ehe das Ziel erreicht war. Dort stand die nächste Prüfung an: Ich hatte kein Ticket. Verkauf nur an Mitglieder, hieß es auf der Raja-Seite. Aber nun, this is Africa. Ein junger Ultra half mir, die erste Polizeisperre zu überwinden, wo ein Ordner an der zweiten Sperre mir versicherte, er würde mich ins Stadion bringen und sich ein bisschen von Deutschland erzählen ließ. Als dann der Chefkontrolleur auftauchte, wurde er kurz über meinen Fall aufgeklärt, packte mich an der Schuler und begleitete mich zum Eingang. Ein paar Worte wurden gewechselt, dann wurde ich ins Stadioninnere geschoben, vorbei an Kartenabreißern, deren Gedanken ich in diesem Moment besser nicht wissen wollte. Vorteil Ausländer aus der Komfortzone?

 

Das Spiel war erträglich, die Stimmung prächtig. Marokkos Fankultur erinnert an die Südamerikas. Viele lange Lieder mit reichlich Text, bei denen alle mitsingen, viel Getanze und Gehopse, wenn es die Spielsituation hergibt brachiale Gesänge und für den Gegner nur Spott, Häme und Abneigung. Endstand 2:0 für die Grünen, die sich gerne als der beliebteste Verein im Land bezeichnen. Das machen die Fans von Wydad vermutlich auch, tatsächlich sah ich aber in der Stadt mehr Raja-Graffitis als von Wydad. Anderthalb Stunden später war ich zurück im Hotel, wobei ich diesmal eine der neuen Tramlinien nutzte, die das Verkehrsproblem ein wenig mindern sollen. (weiter nach der Fotostrecke Casablanca)    

Tags darauf hört Casablanca einfach nicht auf. Die Stadtgrenzen sind längst überschritten, doch das Häusermeer scheint unendlich. Und es entstehen weitere Wohnbehausungen. Wobei Behausungen das komplett falsche Wort ist. Denn hier ist Luxus Trumpf! Unter 1 Mio. Dirham ist nix zu kriegen. Aus unseren Augen 100.000 Euro und damit ein Schnäppchen. Aus vielen marokkanischen Augen weit jenseits der Grenze des Machbaren. Und damit die neuen Eigentumswohnungsbesitzer es auch schön haben, werden drumherum massenhaft Shoppingmalls gebaut. Willkommen in der Zukunft.


Nach 30 Kilometern lande ich in der Vergangenheit. Um Douar Carrière Benabid führt eine Umgehungsstraße. Ich bleibe auf der alten Straße und durchquere den Ort. Schlagartig weicht jede Moderne aus dem Bild. Eine Pferdekutsche rumpelt durch den Straßenmarkt. Hier träumt man nicht von Shoppingmalls. Hier will man überleben. Am anderen Ortsende eine Brachlandschaft. Hunderte von Hütten wurden niedergemäht. Sind ihre ehemaligen Einwohner in die modernen Appartementblöcke gezogen, die nebenan aus dem Boden wachsen? Und freuen sich über 2 Zimmer, Küche, Bad statt wackelige Hütte und Plumsklo? Es bleibt im Bereich der Vermutungen. Ebenso wie die Frage, warum die alten Hütten weichen mussten. Der Großraum Casablanca hat einen hohen Migrationsdruck. Von überall strömen sie Richtung Metropole und wollen dort ihr Glück versuchen. Ist der Abriss ein Versuch, ihnen Möglichkeiten zum Niederlassen zu nehmen? Nachdenklich radle ich weiter.


Die Straße wird schmaler, die Oberfläche ist nun oft kaputt. Mein Gepäck rappelt pausenlos. Leichter Gegenwind und ruppige Autopiloten machen aus der Etappe auch keine Vergnügungstour. Ich bin froh, als ich in Azemmour ankomme. Azemmour ist kein Ort, über den es sich nach Hause zu schreiben lohnt. Ich tue es aber trotzdem: Die Männer sitzen in den Cafés und palavern beim Tee Menthe, die Frauen tragen Schleier. Ich bin zurück im traditionellen Marokko. Es riecht wieder nach Afrika, nach gegrilltem Fleisch und Diesel. Eine Ruine in der Hauptverkehrsstraße modert vor sich hin. Irgendwas Arabische ist an die Wand gepinselt. Dazu steht eine Telefonnummer. Ob sich jemals ein Käufer findet? Azemmours Stadtmachos knattern unterdessen auf schrottreifen Zweirädern durch die Straßen und machen Lärm. 


Im Laden gegenüber warten drei Männer auf Kunden. In der knappen Stunde, in der ich im Café sitze, kommt kein einziger. Angepriesen wird allerlei Haushaltsgerät. Ein uralter Röhrenfernseher, Matratzen, Sofakissen, ein Gasherd und diverse Schränke. Der Kontrast zum modernen Luxusleben in Casablanca ist frappierend.


Der Wandel, der Casa umgekrempelt hat, ist an Azemour vorbeigezogen. Noch. Eine Frage der Zeit, bis auch hier das moderne Leben der Digitale ankommt. Mit Lieferdiensten und einer Generation, die das Leben ihrer Eltern radikal hinter sich lässt.


Die digitale Welt ist schon da! Cyber@ steht groß an einer Häuserwand. Dort kann man ins Internet. Noch eine aussterbende Industrie. Als ich 2011 durch Afrika radelte, war ich auf solche CyberCafes angewiesen. Denn es gab nur selten WLAN und wenn dann unerträglich langsames. Die Korrespondentenberichte an meine Medienpartner zu übermitteln brauchte Ewigkeiten und versaute mir oft genug den Tag. Heute sitze ich im Café, tippe ins Handy und die Bedienung kommt sofort angelaufen und fragt, ob ich WLAN brauche. (Weiter nach der Fotostrecke)


Nächster Tag. 15 Kilometer sind es nach El Jadida. Nach einer guten Dreiviertelstunde bin ich da. Und treffe auf Mohamed. Der wievielte Mohamed das auf meiner Reise ist weiß ich nicht. Dieser Mohamed hat ein kleines Häuschen zwischen Strand und Stadtzentrum. Ein Paradies der Ruhe im chaotischen Alltag.
Mohamed ist durch die Welt gekommen, spricht ein raues Englisch und läuft mit offenen Augen durchs Leben. Seine Unterkunft günstig, bescheiden, authentisch. Beim Duschen brauche ich Hilfe. Die komplette Armatur ist weg. Mit ein paar Knüffen bringt er das Wasser zum Laufen, und es ist sogar warm. So wie die Atmosphäre bei Mohamed, der zwischenzeitlich Kaffee kocht.
Wir plaudern über die Welt. "Erst Covid, jetzt Gaza. Die Welt ist verrückt geworden. Die Lage hier ist schwierig. Jeder guckt nur auf sich selbst." Er hat viele Jahre im Ausland gearbeitet. Im Golfraum, mehr sagt er nicht dazu. Hinter dem Schweigen und seinem ins Leere gehenden Blick vermute ich schmerzhafte Erinnerungen.

Sieben Katzen leben auf seinem Anwesen. Vier sind gerade daheim. Darunter zwei ganz junge. Eine fasst Vertrauen und schnurrt bald behaglich auf meinem Schoß. Die andere sieht arg zerzaust aus. Krank. Ich frage, was mit ihr los ist. "Ich weiß es auch nicht", sagt Mohamed. "Ich war beim Arzt, habe ihr Medizin gegeben, doch es wird nicht besser. Es ist schwierig, weil Arzt und Medizin teuer sind. Ich werde noch einmal hinmüssen".


Mohamed träumt davon, das Haus umzubauen. "Wenn ich neun Zimmer vermieten könnte, wäre das gut. Ich habe verschiedene Sachen probiert, aber die Wirtschaft ist schlecht. Keiner hat mehr Geld". "Aber überall werden doch Luxuswohnungen gebaut, und Shoppingmalls. Auf den 15 Kilometern von Azemzour bin ich an drei Golf-Ressorts vorbeigefahren. Geld ist doch da", frage ich. "Ja, aber nur in bestimmten Händen. Ich habe kein Vertrauen in die Regierung. Die macht keine Politik für die Menschen, sondern nur für sich."


El Jadida überrascht mit Flair, das ich seit meiner Ankunft in Marokko nicht erlebt habe. Es fühlt sich nach Süden an. Das nüchterne, raue des Nordens ist einer Leichtigkeit gewichen, die erstmals so etwas wie Urlaubsflair aufkommen lässt. Ausgedehnte Palmengärten, gepflegt und vom Müll befreit, schaffen Weite und Grandesse. Nur der stinkende Verkehr verletzt das Idyll. Im Stadtzentrum wird es afrikanisch. Garküchen, Verkaufsstände auf dem Boden, die Rufe der Verkäufer. El Jadidas Ruhm stammt von der Cité Portugaise aus der frühen Kolonialzeit. Sie ist in wenig gutem Bauzustand und bevölkert von Neppern und Schleppern, die mich mit "my friend" begrüßen und nicht mehr loslassen. Da ist es wieder, das Marokko der Anstrengungen. 

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