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Auf der Straße der Hoffnungslosigkeit

Mohammedia kommt als Dystopie daher. Kein Bürgersteig intakt, die Häuser eine Ausstellung aus der Schule der depressiven Architektur. Und dann erst der Strand! Kilometerlange Langweile mit Blick auf die Ölraffinerie, die, so lasse ich es mir sagen, bei ungünstigem Wetter die ganze Stadt mit ihrer schweren Luft vergiftet. Die Untergangsstimmung ist greifbar.

 

Ich fahre ins Ortszentrum. Da sieht es nicht besser aus, ist es aber netter. Im Café gibt es Tee Menthe nun in der Kanne und mit riesigen Zuckerbrocken statt fertig im Glas. Der fröhliche Teemeister führt mir die richtige Eingießtechnik vor und verlangt 8 Dirham für Getränk und Präsentation: knapp 80 Cents.

 

Drei Tage der Arbeit vergehen anschließend in einem schicken Ressort, das mich mit Nebensaionpreisen und Ruhe lockt, im Fluge. Höhepunkt sind ein Interview mit dem luxemburgischem Fernsehen über mein Buch "Luxemburg - Geschichte einer Fußball-Liebe" sowie ein Redaktionstelefonat mit dem Zeitspiel-Mitstreiter Frank, der gerade auf den Färöer-Inseln weilt, während ich durch Marokko toure. Sage noch jemand was gegen Fortschritt! (weiter nach der Fotostrecke Mohammedia)

 

Heute ging es nun weiter. Etappenziel: Casablance. 32 Kilometer und unendlich viele unterwegs aufgereihte Seelen entfernt. Der Raum ist dicht besiedelt. Schon bald wird klar, dass mein Dystopie-Vorwurf für Mohammedia ungerechtfertigt war. Denn am südlichen Rand der Stadt beginnt wahrhaftig die Endzeit. Zwischen den gewaltigen Ölanlagen kauern sich zerbrechliche Wellblechhütten. Mehr Afrika geht nicht! Alles ist in Benutzung: alte Werbetafeln, Plastikfolien, abgetrennte Auto-Kotflügel. Hier ist Marokko ganz unten.

 

Kurz darauf eine Siedlung Hochhauswohnbunker. Da lebt man immerhin höher als "ganz unten". Allzu alt können die Gebäude nicht sein, doch ihr Zustand erschreckt. Die Straßen sind kaputt und zugemüllt. Verkehrsregeln gibt es keine: auf meiner schmalen Fahrspur kommen mir Radfahrer, Motorradfahrer, Eselkarren und Pick-Ups entgegen. Fußgänger natürlich auch. Ich brauche mindestens vier Augenpaare, um alles im Griff zu haben. Die Atmosphäre verschlägt mir den Atem. Sie besteht aus einem eigentümlichen Schweigen, das hörbar ist. Der Schrei der Abgehängten. 

So geht es weiter für die nächsten 15 Kilometer nach Casablanca. Eine Etappe auf der Straße der Hoffnungslosigkeit.

 

Überall wird gebaut. Ein Schild verkündet, demnächst verlaufe hier eine Schnellstraße. 2 x 2 Fahrstreifen soll sie haben. Sie zerschneidet schon jetzt das Drama.

 

Nach ein paar Kilometern neue Bauarbeiten. Diesmal sind es Wohnblöcke, die aus dem Boden wachsen. Nicht die schicken Weißen mit Balkon und grünen Rasenflächen, wie zwischen Rabat und Mohammedia, sondern graubraune, funktionale Schuhkartonbehausungen. Sie entstehen auf jenem Slum, der sich bis vor kurzem bis zur Stadtgrenze von Casablanca ausdehnte und aus dem die Attentäter von 2003 kamen, die 100 Menschen in Selbstmordanschlägen töteten.

 

Damals griff das Könighaus hart durch, denn eine Attacke auf die Tourismusindustrie war eine auf das ökonomische Herz Marokkos. Zugleich wusste man, dass die Lebensqualität verbessert werden musste. Über 20 Jahre später rücken nun Wohnblöcke anstelle der Wellblechhütten, von denen noch immer eine Handvoll inmitten der Riesenbaustelle bewohnt wird.

 

Mit Marokkos Armut wird man überall konfrontiert. Sie ist inoffizieller Zweig der Tourismusbranche. Unter den Mitarbeitenden sind viele begabte Schauspieler. Abenteuerliche Geschichten werden mit Brillanz vorgetragen. Besonders beliebt: die kleine Schwester ist krank und braucht spezielle Milch. Zufällig befindet sich ein Laden, der diese führt, in der Nähe. Also geht der Tourist mit und begeht die gute Tat. Alle sind glücklich - nur das kleine Mädchen nicht. Denn ob das überhaupt existiert ist unklar. Kaum ist der vom schlechten Gewissen befreite Tourist nämlich abgezogen, wandert die sündhaft teure Milch zurück ins Regal und der Kaufpreis, abzüglich einer Kaution, in die Hände des Schauspielers.

 

Ich will das hier nicht lächerlich machen, denn viele Menschen in Marokko haben tatsächlich wirtschaftliche Not, aber es ist eben ein Trickgeschäft. Man zahlt für den schauspielerischen Vortrag.

 

Schwerer zu ertragen sind die vielen sehr alten Menschen, die einem, oft körperlich in der Bewegung stark eingeschränkt, stumm die Hand hinhalten. Marokko ist ein große Nagelprobe für das eigene Gewissen. (Weiter nach der Fotostrecke "Straße der Hoffnungslosigkeit")

 

Casablanca beginnt mit Gewerbegebieten, wie jede selbstbewusste Großstadt in der Welt. Der Verkehr nimmt schlagartig zu. Auf den Bürgersteigen haben sich Autowerkstätten ausgebreitet und verölen den Boden. Allmählich werden die Straßen breiter, schüttet Casblanca seinen ganzen Wahnsinn über mir aus. Fotografieren geht nun nicht mehr, denn die nächsten rund 15 Kilometer sind Slalomfahren im Dieselgestank, untermalt von Hupkonzerten sowie Motorengedröhn und begleitet von Todesschwadronen, die vor allem auf Mopeds, Scootern oder Motorrädern sitzen. Sie schlängeln sich überall durch und sind des Radreisenden größter Feind, weil sie null Seitenabstand halten und mich regelmäßig quasi in die Zange nehmen.

 

Herausfordernd ist vor allem das Abbiegen. Die auch in Marokko gültigen Zeichen wie Blinker oder Arm raus interessieren hier niemanden. Es guckt eh keiner hin. Die meisten Autofahrer starren nebenbei aufs Handy, die Taxifahrer leben ihr Scheuklappenleben auf der Suche nach Fahrgästen und die Zweiradpiloten agieren ihre Spontanität in abrupten Richtungsänderungen aus. Es ist eine meiner anstrengendsten und fordernsten Touren im Fahrradsattel.

 

Endlich am Ziel in Maarif angekommen wartet die befürchtete Hiobsbotschaft auf mich. Das via Booking.com gebuchte Appartement existiert nicht. Ich hatte es schon geahnt, denn auf meine Anfragen reagierte niemand und unter der angegebenen Telefonnummer war nur ein Tonbandtext auf Arabisch zu hören. Ein freundlicher Ladenbesitzer rief dort für mich an und übersetzte: "Diese Telefonnummer ist nicht vergeben".

 

Sapperlott, würde Kapitän Haddock jetzt wohl sagen. Und Tim würde mit einer Idee um die Ecke kommen. Problem: ich bin allergisch gegen Straßenlärm - und find mal im Verkehrsmoloch Casablanca ein "ruhig" gelegenes Hotel. Das Unterfangen glückt. Im "Unico" sind noch 12 Quadratmeter mit eigenem Bad in einer vergleichsweise ruhigen Seitenstraße frei. Zwar spürbar über meinem Unterkunfts-Tageslimit, aber hey, Casablanca!

 

Abschließend noch ein Wort zur Güte. Marokko kommt in den letzten Tagen ziemlich schlecht weg in meinem Blog. Ich beschreibe, was ich sehe und erlebe, und gegenwärtig bin ich nun mal in einer dichtbesiedelten Region unterwegs, in der der Alltag größtenteils nicht allzu touristentauglich sondern eher mühsam und hart ist. Wer meine Bücher und Texte kennt, weiß, dass ich genau das suche: Authentizität. Nicht mit den Augen eines Touristen reisen, der sich an schönen Dingen erfreuen will, sondern denen eines Beobachters, der ein möglichst großes Bild haben möchte.

Am Montag verlasse ich Casablanca und fahre weiter entlang der Küste Richtung Süden. Von vielen Seiten habe ich gehört, dass Marokko dort langsam sein nüchternes, mitunter trauriges und in jedem Fall betriebsames Bild der bisherigen Atlantikküste verliert. Ich bin gespannt und verspreche, es ausgiebig zu feiern und hochleben zu lassen, wenn dem so ist! 

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