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Im Land der Bauwut

Marokko ist eine ständige Herausforderung zwischen Luxus, Dritter Welt und dieser wunderbar mitreißenden Freude der Menschen in Afrika. Dauernd schwankt man zwischen „grandios hier“ und „bloß weg“. Larache war Dritte Welt, war "bloß weg". Eine Stadt mit viel Potenzial, aber leider kaputt. Die schöne Küstenlinie verbaut mit einer mehrspurigen Straße. Die Burg aus uralten Zeiten dem Verfall preisgegeben, die Medina ein einziges Armenviertel mit vielen Kindern, noch mehr Katzen und ganz wenig Hoffnung. Die reiche Geschichte der Stadt ist zur blanken Kulisse geworden, um die sich Müllberge stapeln. Inmitten der Medina liegt ein großartiger Platz mit Atmosphäre. Also zumindest dem Potenzial von Atmosphäre. Die Läden an beiden Seiten verscherbeln Alltagsgüter und hoffen auf ein paar Touristen, die es aber nur selten nach Larache schaffen. Verlässt man die Medina, zaubert die koloniale Architektur Spanien herbei. Ein palmenbesetzter runder Platz mit Caféhäusern und Häusern aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts. Unermüdlich umkreist der höllische Straßenverkehr das Idyll und erstickt die romantische Kulisse im Dieselgestank. "Weg hier".

 

Tags darauf durchkurble ich die ganze Stadt, um zum CTM-Busbahnhof zu kommen. Die Etappe nach Rabat, meinem nächsten Ziel, ist wenig reizvoll. Voller Verkehr, durch entleerte Landschaften. Zudem gibt es nur zwei potenzielle Übernachtungsorte, und beide klingen nicht verlockend. Also werfe ich das Rad in den Bus und spare meine Zeit für schönere Landschaften, die weiter im Süden auf mich warten. Marokkos nördliche Atlantikküste ist wahrlich nichts für Feinschmecker. Man kann sie gesehen haben, muss es aber nicht. (weiter nach der Fotostrecke Larache) 

Ein nicht unwesentlicher Teil des Tages in Marokko vergeht mit warten. Ich sitze in der Busstation in Larache. Da war ich gestern schon mal, um das Ticket nach Rabat zu reservieren. Der Warteraum war voll, doch hinter dem Schalter saß niemand. Irgendwann tauchte ein Angestellter auf, verkaufte mir einen Sitzplatz, aber keinen Gepäckschein für das Fahrrad. Den brauche ich. „Machen wir morgen früh, kostet höchstens 10 Dirham“, teilt er mir mit. Nun sitze ich wieder in diesem Raum. Er ist wieder voll, der Schalter ist wieder nicht besetzt. Eine Mutter mit Tochter in den frühen Zwanzigern sitzt mir gegenüber. Die Stimmung zwischen den beiden wirkt angespannt. Die Tochter ein Pulverfass. Als wolle sie am liebsten ihr Kopftuch runterreißen und sich ins Leben stürzen. Die Mutter, ebenfalls mit Kopftuch, starrt stur nach vorne. Man ahnt ihren Konflikt.

 

Zur Station gehört ein Gepäckverwalter. Gemütliche 120 Kilo Lebendgewicht. Er spricht nichts außer Arabisch, was allerdings egal ist, denn er spricht eh kaum. Saß gestern wie ein Buddha auf seinem Stuhl. Im Gesicht ein freundliches Lächeln. Sitzt heute wie ein Buddha auf seinem Stuhl. Im Gesicht ein freundliches Lächeln. Ob er sich jeden Morgen freut, zur Arbeit zu gehen und zu warten? Auf den 9 Uhr 30 nach Rabat, auf den 12 Uhr nach Rabat. Und was noch so abfährt von Larache.

 

Nach knapp drei Stunden erreichen wir Rabat. Der Busbahnhof liegt vor den südlichen Stadttoren direkt am derzeit umgebauten Fußballstadion. Die Umgebung ist eine einzige Baustelle, durch die ich mich mühsam durchnavigiere. Dann geht es 19 Kilometer schnurgerade Richtung Innenstadt. Ich fahre die Ellenbogen aus und stürze mich ins Getümmel. Vor allem die Kreisverkehre sind herausfordernd. In Marokko fährt man auf Lücke. Wo eine ist, wird reingedrängelt. Und ein Radfahrer braucht ja nicht viel Platz, da ist also umso mehr Lücke. Ich bin froh, dass mir die Gepäcktaschen einen Schutzpuffer bieten und genieße zugleich das adrenalingespeiste Platzgescharer auf der Straße. Zögerlich sein darf man nicht, denn drängelt man auch als Radfahrer einfach mit kommt der Respekt der Autopiloten automatisch. Keiner will mich hier umfahren. Nach einer knappen Stunde komme ich in meiner Unterkunft im Stadtzentrum an. Eine kleine WG mit Dachterrasse und freundlichen Leuten.

 

Rabat ist sensationell. Eine Riesenstadt, deren tiefer Atem eine beruhigende, fast halluzinatorische Wirkung hat. Der Verkehr fließt unablässig wie Blut durch das sauber strukturierte Schachbrettsystem der Stadt. Es ist laut, es stinkt, es ist heiß, und es geht trotzdem eine tiefe Ruhe von der Stadt aus. Zum ersten Mal harmoniere ich mit Marokko.

 

„Rabat ist eine moderne Stadt“, sagt François, der in der WG lebt. Er kommt aus Paris, studiert in den Niederlanden und ist für ein Auslandssemester in Rabat. „Sie ist die Hauptstadt und rausgeputzt, um sie vorzuzeigen. Hier kommen alle Staatsgäste an, hier will man sich modern und aufgeräumt zeigen. Wenn man vom Flughafen kommt kann man genau sehen, wo die Staatsgäste langgeführt werden. Da wächst überall Gras, ist alles aufgeräumt, sind die Häuser in Ordnung. Rabat will einen guten Eindruck hinterlassen. Sobald man von den Vorzeigestrecken runter ist sieht es anders aus. Aber Rabat ist schon sehr modern und liberal. Völlig anders als im ländlichen Raum, wo es viel traditioneller ist.“

 

Rabats Medina ist unaufgeregt und ist voller Verlockungen, sei es kulinarisch oder handfest materiell. Auch die superklebrigen Baklava-Köstlichkeiten, die ich aus Tetouan kenne, sind wieder zu kriegen. Syrische Flüchtlinge haben sie nach Marokko gebracht, erfahre ich. Marokkos Backwaren haben zwar durchaus auch ihren Charme, erinnern in der Konsistenz aber manchmal an Sahara-Sand.

 

Am Abend sitze ich in einem Schnellimbiss, als eine Provokation eintritt. Langes schwarzes Haar, jung, knallenge Jeans, bauchfreies T-Shirt. Ein mutiger Auftritt, selbst hier im toleranten Rabat. Eine Vorkämpferin für die Befreiung der Frau. Sie flirtet offen mit ihrem Freund, gibt sich lasziv, ist sich ihrer Wirkung bewusst und hält es aus. Am Nachbartisch sitzt Marokkos Vergangenheit: Komplettverschleierung, schwarz. Die Dame könnte die Oma der Erfrischenden sein. Wenn sie isst, muss sie erst den Schleier beiseite schieben. Auf dem winzigen Sehschlitz sitzt eine Brille. Kein Fitzelchen Haut ist zu sehen. Sie ist begleitet von zwei jungen Männern, die der Provokation mit offenen Münder auf den Hintern stieren, als sie durch das Lokal marschiert. Eine Gruppe Frauen mit Kopftuch vergisst ebenfalls das Essen und lässt den Blick am Körper der Mutigen hoch- und runtergleiten. Wenn ein Paar in Marokko ein Hotelzimmer anmieten will muss es die Heiratsurkunde vorlegen. Sonst gibt es keine Intimität. Ich brenne für die Frage an das verliebte Paar, wie sie dieses Problem lösen. Doch ich schweige, lasse ihnen ihr Glück und feiere die Schöne für ihren Revolutionsmut. (weiter nach der Fotostrecke Rabat. und nein, natürlich KEIN Foto von der Dame ;-))

 

Zum nächsten Etappenziel Mohammedia sind es 65 Kilometer. Nahezu flach, fast nur am Meer entlang. Und voller Baustellen. Auf den ersten 30 Kilometern entstehen gefühlt gegenwärtig mehr Wohnungen, als die letzten drei Bundesregierungen zusammen zustandegebracht haben. Vieles im Luxussegment, denn die südliche Ausfallstraße gehört zu Rabats Vorzeigestrecken: Saftiggrüne Grasflächen, ein Golfplatz, Nobelrestaurants und Villen mit Wachpersonal und dickem SUV vor der Garage. Geld ist zweifellos vorhanden in Marokko. Über die gerechte Verteilung bin ich unsicher.

Die Bauwut zieht sich bis zu meinem Zielort. Straßen werden auf zwei oder drei Spuren ausgebaut und frisch asphaltiert. Überall entstehen Tankstellen und weitere Shoppingmalls. Marokko putzt sich raus für den Afrika-Cup 2025 und vor allem die Weltmeisterschaft 2030. Die wird u.a. in Rabat und Casablanca ausgespielt. Sowie in einem jüngst vorgestellten Gigantprojekt unweit von Mohammedia, bei dem ich morgen mal vorbeischauen will.

 

Zwischen den Baustellen blitzt manchmal das alte Marokko hervor. Wellblechhütten, Eselkarren, Menschen, die sich keinen SUV leisten können. Und vermutlich auch kein WM-Ticket. Ich stoppe bei Aziz und Rachid. Sie betreiben ein kleines Fischrestaurant an der Straße und servieren frischen Tee. Rachid präsentiert stolz ein paar Beutetiere vom Morgen. Aziz lobt seinen Kompagnon als „den besten Fischer, der geht richtig in die Tiefe“. Vom neuen Stadion sind sie begeistert. Zeigen mir auf der Karte den Bauplatz, freuen sich darauf, dass es zahlungskräftige Touristen zu ihnen bringt. Hoffentlich täuschen sie sich nicht, denn in punkto Luxus kann ihr Straßenimbiss mit Plastikstühlen vermutlich nicht mit den neuen Nobelrestaurants für die WM-Gäste mithalten.

 

Tags darauf fahre ich raus zum Baugelände. Knapp neun Kilometer Ödland habe ich überwunden, als der Bauzaun auftaucht. „Grand Stade Hassan II“ steht drauf. Das Megaprojekt soll 117.000 Plätze aufweisen. Marokko will das WM-Endspiel, und das gibt es nur bei passender Größe. Über fast zwei Kilometer zieht sich die Baustelle, zu der pausenlos Lastwagen hin und herwuseln. Die Erdarbeiten haben bereits begonnen. Eine Armee gelber Bagger gräbt das Gelände um. Es ist ein absolutes Luxusprojekt für ein Land, das in Sachen Armutsbekämpfung zwar zu den Vorbildern in Afrika zählt, die Einkommensschere allerdings geht weit auseinander. Vor allem mit der WM werden jedoch viele Hoffnungen auf wirtschaftliche Entwicklung verbunden.

 

Fußball läuft hier überall in Dauerschleife in fast jeder Bar. Spanische Liga, Premier League, Champions League. Viele tragen Trikots, die es in den Straßenmärkten für 80 Dirham (knapp 8 Euro) als Fake gibt. Ab und an einheimische Teams oder die Nationalmannschaft. Meistens aber europäische Klubs mit (Werbe)Partnern in Katar oder den Emiraten: Real, Barça, PSG, Manchester City. Auffällig der starke Bezug zu Saudi Arabien. Al Nassr und Co. sind stark vertreten, Ronaldos laufen hier in allen Altersklassen rum. Es ist der übliche Ausverkauf des Fußballs in seiner marokkanischen Form.

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