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Zum Tod von Ismail Kadare

Bis zur Revolution 1990 waren es vor allem zwei Männer, die das Bild von Albanien im Ausland prägten: Diktator Enver Hoxha und der Literat Ismail Kadare. Kadare wandelte sich im Laufe der Jahre von einem Beobachter der Entwicklung des Landes zu einem kritischen Geist. In den 1980er Jahren war er der vermutlich einzige im Land, der sich so etwas wie Kritik am Regime erlauben durfte, ohne dafür mit dem Leben zu bezahlen. Die Geheimpolizei Sigurimi hätte ihn liebend gerne festgenommen, doch Enver Hoxha, Literaturliebhaber, hielt die schützende Hand über seinen letzten Kritiker.

Am heutigen 1. Juli 2024 ist Ismail Kadare gestorben. In meinem Buch "Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien" taucht er an vielen Stellen auf. Selten im Fußball, denn der interessierte ihn nicht, aber dafür viel in der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes, zu der er enorm viel beigetragen hat. In Andenken an Ismail Kadare ein kleiner Buchauszug aus dem Kapitel über Gjirokaster, Kadares (und auch Hoxhas) Heimatstadt.     


Albaniens ungleiche Berühmtheiten

Die steilen Stufen strengen an, zumal die Sonne in Hochsommerlaune ist. Mir gelingt es nicht, Kontakt zu der makellos aufgehübschten Altstadt zu knüpfen. Zu sehr ist sie als Kulisse auf den wohlhabenden Touristen und dessen Geldbörse ausgerichtet, zu wenig sind Albanien und dessen authentischer Alltag zu spüren. Also lasse ich mich wieder hinunter in die weniger museale Neustadt treiben. Bewundere auf dem Weg dorthin noch einmal das nach Jahrhunderten makellos abgeschliffene Kopfsteinpflaster der steilen Gassen und schaue beim Geburtshaus von Ismail Kadare vorbei. Zu sehen gibt es wenig. 1999 brannte das Gebäude ab. Kadare überließ die Ruinen der Stadt, die es originalgetreu nachbaute. Weder das Haus noch das Innere verfügen jedoch über eine Seele. Es gibt lediglich ein paar Kadare-Bilder zu sehen, sonst erinnert nichts an den mehrfach für den Nobelpreis nominierten Literaten.

 

Der berühmteste Schriftsteller des sozialistischen Albaniens spielte zu Zeiten des Hoxha-Regimes eine ambivalente Rolle. Während viele Schriftstellerkollegen mit Berufsverbot belegt oder gleich in Arbeitslager verschleppt wurden, hielt Kadare dem stalinistischen Regime die Treue. Kritisch zwar, aber trotz aller Gräueltaten auch mit Überzeugung. Die Nähe zum Regime hatte seine Vorteile, denn Kadare war der möglicherweise einzige im Land lebende Albaner, der zumindest leise öffentliche Kritik an der Führung äußern konnte.

 

Kadare kam 1936 als Sohn eines Gerichtsboten in Gjirokastra zur Welt und wuchs im Gegensatz zum späteren Diktator in bescheidenen Verhältnissen auf. Er wurde geprägt vom Großvater, einem gebildeten und wohlhabenden Mann. „Chronik aus Stein“ gilt als autobiografisches Zeugnis seiner Jugend in Gjirokastra. Er studierte Geschichte und Philologie in Tirana, erhielt 1956 das Lehrerdiplom und ging anschließend zum Studium der Literaturwissenschaften nach Moskau. Als Albanien 1961 mit der UdSSR brach, kehrte er nach Tirana zurück. Seine Moskauer Zeit hat er in dem autobiografischen „Die Dämmerung der Steppengötter“ verarbeitet, den Bruch mit der UdSSR behandelte er im 1973 erschienenen „Der große Winter“.

 

1959 schrieb Kadare mit „Die Stadt ohne Reklamen“ seinen ersten Roman, in dem es um einen geschichtsverfälschenden Studenten geht. Das Buch blieb bis zum Ende des Hoxha-Regimes unveröffentlicht. 1963 erschien mit „Der General der toten Armee“ ein Werk, das ihn im Westen bekanntmachte, in Albanien jedoch ignoriert wurde. Kadare lobpreist darin nicht etwa einseitig Partei und Führer, sondern malt ein vielschichtiges Alltagsbild, das neben überzeichneten sozialistischen Farben auch kritische Grautöne enthält. Damit geriet er erstmals in den Fokus der Geheimpolizei Sigurimi, für die er zum fast paranoid verfolgten Feindbild und „westlichen Agenten“ wurde. Mit 1.280 Seiten ist Kadares Geheimdienstakte die umfangreichste aller öffentlichen Personen in Albanien. Es war Hoxhas schützende Hand, die ihn vor der Verhaftung bewahrte.

 

1970 wurde er vom Regime zum Parlamentsabgeordneten bestimmt, kam jedoch fünf Jahre später aufgrund eines politischen Gedichts, mit dem er angeblich Behörden beleidigt hatte, für einige Zeit ins Arbeiterlager. Selbst Hoxha sagte nun: „Es ist klar, dass Kadare konterrevolutionär ist, er ist gegen die Diktatur des Proletariats, gegen die Gewalt und Unterdrückung von Klassenfeinden, er ist gegen den Sozialismus im Allgemeinen und in unserem Land im Besonderen.“ Erst 1981 durfte Kadare mit „Der Palast der Träume“ wieder ein Buch veröffentlichen, das das Bild eines diktatorischen Staates zeichnet, der selbst die Träume seiner Untertanen überwacht, um potenzielle Verschwörungen aufzudecken. Es war offenkundig, wer angesprochen war: Das Regime und sein perfides Überwachungs- und Unterdrückungssystem. So einen Text in einem stalinistischen System mit unnachgiebiger Haltung gegenüber Kritikern vorzulegen war mindestens mutig.

 

Im selben Jahr reichte Kadare auch „Konzert am Ende des Winters“ zur Veröffentlichung ein, das von der Partei als „Spott des politischen Systems“ sowie „offener Widerstand“ betrachtet und abgelehnt wurde. Hoxha wies die Sigurimi an, Kadare als Verschwörer und Staatsfeind zu verhaften, und als er Ende 1981, das Politbüro war nach dem Selbstmord des designierten Hoxha-Nachfolgers Mehmet Shehu noch in Aufruhr, für eine Kunstaustellung, an der auch Hoxha teilnahm, keine Einladung erhielt, war klar, dass sein Leben ernsthaft in Gefahr war. Es war die westliche Berichterstattung, die ihn rettete. Der renommierte französische Journalist Bernard Pivot schrieb damals: „Wir warten auf Ismail Kadare und nicht auf seinen Kopf auf dem Teller“. Aus Albanien ausreisen durfte Kadare allerdings nicht. Ich gebe dem Westen keinen Dissidenten!“, befahl Hoxha. „Konzert am Ende des Winters“ sollte erst 1988 erscheinen, drei Jahre nach Hoxhas Tod. 

 

Als Ismail Kadare im September 1990 nach Frankreich emigrierte steckte Albanien zwischen Revolution und Konterrevolution. Seine Eindrücke aus jenen Tagen hat er im Essayband „Albanischer Frühling“ nachgezeichnet. Es ist das Zeugnis eines Mannes, der als überzeugter Sozialist am real existierenden Sozialismus verzweifelt. Eine Gratwanderung in jeglicher Hinsicht, denn von der Kritik wurde der Band als „rechtfertigende Relativierung“ zerrissen. Kadare blieb eine öffentliche Person zwischen den Welten. Neun Jahre später kehrte er nach Tirana zurück. Angebote, wie sein tschechischer Schriftstellerkollege Václav Havel Präsident des Landes zu werden, hat er stets abgelehnt. Das öffentliche Urteil über seine Person schwankt bis heute zwischen dem eines Mannes mit ungesunder Nähe zum System und dem Respekt vor dem Drahtseilakt, unter lebensgefährlichen Bedingungen halbwegs kritische Botschaften in Literatur zu verpacken. Auf gewisse Art personifiziert Ismail Kadare damit Albaniens bislang ausgebliebene Aufarbeitung der Vergangenheit.


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