Gjirokastër ist UNESCO-Weltkulturerbe, Geburtsstadt von Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Literat sowie Enver Hoxha, über vier Jahrzehnte die stalinistisch-eiserne Hand des Landes. Die Stadt genoss immer ein bisschen eine Sonderrolle und tut dies bis heute. Nirgendwo sah ich so viele ausländische Touristen wie in Gjirokastër. Das war bisweilen ein wenig verstörend, denn Massentourismus hat immer auch Auswirkungen auf die massenhaft besuchten Orte. Nicht alle profitieren davon - schon gar nicht der lokale Fußballverein Luftëtari Gjirokastër. Früher spielte Fußball in dem Ort - wie überall in Albanien - eine zentrale Rolle im Lebensalltag.
Luftëtari kämpft nicht mehr
Mein Weg hinunter aus der „Chronik in Stein“ endet in der Neustadt, die das Gjirokastra der Gegenwart markiert. Mehrgeschossige Wohnblöcke im italienischen Stil prägen den Anblick. In ihren Bäuchen befinden sich Einkaufsläden und Barcafés. Neben dem Fußballstadion „Subi Bakiri“ lasse ich die Atmosphäre für einen Makiato auf mich wirken. Gjirokastras Fußballtempel ist ein wenig aufregender Klassiker im griechischen Stil mit Leichtathletikanlagen und unüberdachten Tribünen, auf denen blaue Sitzschalen montiert sind. 1973 erbaut und mitten im Zentrum gelegen, ist es harmonisch eingebunden ins Alltagsleben. Luftëtari Gjirokastër war in den frühen 1980er Jahren der erste albanische Klubname, in den ich mich aus der Ferne verliebte. Dass Luftëtari für „Kämpfer“ steht wusste ich ebenso wenig wie, dass die Mannschaft meistens nur Mitläufer war: Einsamer Erfolg ist die Vizemeisterschaft 1977/78, als drei Punkte auf Meister Vllaznja Shkodër fehlten. Gjirokastra galt als bedeutende Talentschmiede und stand für exzellente Nachwuchsarbeit.
Nach der Revolution kam Luftëtari nicht mehr über die Rolle einer Fahrstuhlmannschaft hinaus. Ein Jahr nach meiner Reise musste der Klub 2020 sogar Konkurs anmelden und wurde aufgelöst. Der Vater in meiner Herberge schwärmt beim Nachmittagskaffee von den goldenen Jahren, als er wie viele regelmäßig ins Stadion ging. „Fußball war das Größte für uns. Nicht nur für uns Männer. Auch unsere Frauen und Kinder sind mitgekommen. Das Spiel am Wochenende war Familienereignis. Fußball war alles, egal, ob unsere Mannschaft gewonnen oder verloren hat. Nach dem Ende des Kommunismus war es damit vorbei. Ich bin in den 1990ern zwar immer noch zu vielen Spielen gegangen, doch es war anders geworden. Es kamen deutlich weniger Zuschauer. Viele waren ja nach Griechenland gegangen. Vor allem aber gab es jetzt so viel mehr, was wir jetzt am Wochenende tun konnten. Das Flair war weg und irgendwie war es auch deprimierend. Denn der Fußball war wirklich schlecht. Wir haben damals alle guten Fußballer an den Westen verloren. Von hier sind die meisten nach Griechenland gegangen. Unser Fußball ist binnen weniger Monate personell völlig ausgeblutet.
Für uns Zuschauer war das sehr frustrierend. Ich bin jetzt schon länger nicht mehr im Stadion gewesen. Es interessiert mich nicht. Fußball spielt hier keine Rolle mehr. Ich glaube nicht, dass heute mehr als 200 Menschen bei den Spielen sind. Ich schaue noch nach den Ergebnissen, aber das hat nichts mehr mit mir zu tun. Damals war Luftëtari ‚wir‘. Heute ist es ‚nichts‘.“
Fußballfan ist er immer noch: „Ich verfolge jetzt die italienische Serie A. Das gefällt mir, da kann ich viele Spiele gucken. Ich bin Rentner und habe Zeit, es ist unterhaltsam und schön anzuschauen. Albaniens Fußball ist dagegen schrecklich. Das kann man sich nicht angucken.“ Seine Frau kommt dazu. „Klar war ich früher mit im Stadion. Da haben wir uns alle getroffen. Für uns Frauen ging es nicht so sehr um das Spiel. Das fand ich ganz unterhaltsam, aber viel schöner war das Gemeinschaftsgefühl. Dass wir uns alle trafen und eine gute Zeit miteinander hatten. Man darf ja nicht vergessen, dass die Sigurimi vor allem in den 1980ern sofort nervös wurde, wenn mehr als fünf Leute auf der Straße zusammengestanden haben. Im Stadion fühlte man sich frei.“
Ein Spielbesuch würde heute möglicherweise schon am Eintrittsgeld scheitern. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht, obwohl wir beide Rente bekommen. Jeweils 150 Euro. Zum Glück haben wir dieses Haus. Seitdem die Kinder weg sind stehen zwei Zimmer leer. Jetzt bieten wir sie Touristen an. Das hilft uns, finanziell zu überleben. Und es ist schön, dass Menschen von überall zu uns kommen und hier etwas Leben ist. Sonst wären doch nur wir. Und wir fühlen uns viel zu jung, um einfach nur auf den Tod zu warten.“ Als ich frage, ob sie die alten Zeiten vermissen, wird die Mutter nachdenklich. „Der Kommunismus war gut, und wir hatten Arbeit und Brot. Jetzt ist es viel schlimmer für viele. Der Wandel damals war wirklich schwer. Von einem auf den anderen Tag war alles anders. Und die alte Ordnung war weg. Es war niemand da, der sich um eine neue gekümmert hat. Wir hatten ja keine Ahnung, wie das funktioniert mit dem Kapitalismus. Das war eine schreckliche Zeit. Da ist viel kaputt gegangen, da haben wir etwas verloren, was wir nie wieder gefunden haben. Auch gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Ob sie Hoxha und den Kommunismus zurückhaben wolle? Da grinste sie und nickte mit dem Kopf — das verstärkt in Albanien verwirrenderweise ein „Nein“: Nein, das nun auch wieder nicht.
Am Abend bekomme ich eine der Konsequenzen des Wandels zu spüren. Tourismus ist für Gjirokastra Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite bringt er Geld und Arbeitsplätze. Sorgt für wirtschaftliche Entwicklung, die gesichts- und geschichtslose Städte wie Peshkopi oder Kukës nie erreichen werden. Auf der anderen Seite trennt er Welten. Die Pizza in Gjirokastra kostet 750 Lek – überall sonst ist sie für maximal 500 zu haben. 250 Lek – etwa zwei Euro — tun mir nicht weh. Also zahle ich sie umstandslos. Und weiß doch, welche Folgen das hat. Denn die Preise werden sich immer weiter ans westliche Niveau anpassen. Zugleich verändert es die Wahrnehmung. In Gjirokastra bin ich nichts anderes als ein reicher Tourist aus dem Westen. Niemand interessiert sich für mich und meine Radrundreise. Nicht mal meine mühsam erlernten Albanischbrocken zaubern noch ein Lächeln hervor wie sonst.
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