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ALBANIEN Mercedes Benz und die Liebe zu (und von) Gerd Müller

Als die Revolution 1990 begann, gab es in Albanien kaum Autos - sie waren verboten. Nur die hohen Kader durften sich bequem kutschieren lassen. Der Rest des Volkes ging zu Fuß, fuhr Fahrrad oder nutzte den Öffentlichen Nahverkehr.

 

Mit der Revolution änderte sich das. Umgehend kamen in Europa ausgemusterte PKW ins Land. Doch die Straßen in Albanien waren schlecht. Kaum Asphalt, viel Schotter. Als Radfahrer würde ich sagen: nix fürs Rennrad, da muss das Gravelbike ran. Das Gravelbike unter den Autos ist der Mercedes. "Das war das einzige Auto, das mit den schlechten Straßen zurechtkam und nicht gleich zusammenbrach", erzählten mit stolze Mercedes-Fahrer überall im Land.

 

Und so sieht man den Stern aus Untertürkheim bis heute überall. Selbst im Hochland der albanischen Alpen im Norden, wo ich auf drei sehr schweißtreibenden Etappen mit den Anstiegen kämpfte. Und eines Abends in ein Hotel kam, in dem ein Doku über DAS SPIEL - das 0:0 gegen Deutschland von 1967 - lief. In diesem Zusammenhang begegnete mir dann eine fast unglaubwürdige Geschichte über Gerd Müller, deren Wahrheitsgehalt ich stark anzweifle, die aber trotz erzählenswert ist. Hier ist sie.


Müllers heimliche Liebe

 

Als ich frisch geduscht zurückkehre, läuft auf dem Restaurant-Fernseher eine Dokumentation über den albanischen Fußball. Ein uralter Schwarz-Weiß-Film erzählt Wundersames aus der Vergangenheit. Der Hotelbesitzer kommt hinzu und übersetzt. Es geht um die „Balkaniada 1946“ in Tirana. Der Gewinn des Balkanpokals wenige Monate nach Kriegsende ist bis heute der einzige internationale Erfolg der albanischen Nationalmannschaft. Enver Hoxha war gerade dabei, sein Land in eine sozialistische Volksrepublik zu verwandeln. Noch pflegte er Verbindungen mit Nachbar Jugoslawien und dessen Staatschef Tito, noch war der von ihm verehrte Stalin im ganzen Ostblock en vogue, noch glaubten die Albaner an eine rosige Zukunft und verehrten den Partisanenführer Hoxha. Das Fußballturnier war eine glänzende Gelegenheit, sich als guter Gastgeber zu präsentieren.

Kurz zuvor war das sowjetische Spitzenteam von Spartak Moskau zu einer Goodwill-Tour durchs Land gereist und hatte die Fans bei Spielen in Vlora, Shkodra und Tirana begeistert. Die wackeligen Filmaufnahmen zeigen Bilder vom Endspiel gegen Rumänien, das Albanien mit 1:0 gewann. Jubelnde, ausgelassene Fans, darunter erstaunlich viele Frauen und Kinder. Ein glückliches Volk, das nicht ahnt, dass es vor einem Zeitalter der Dunkelheit steht. Hoxha schaute in persona und als Riesenplakat von der Mittellinie aus zu. Der Fußballsieg hatte eine hohe Bedeutung für die Nationwerdung Albaniens, das zwei Jahre nach der Befreiung noch auf der Suche nach ethnischer und sozialer Einheit war. Fußball diente als effektives Hilfsmittel. „Auch heute erinnere ich mich an den albanischen Torschützen, Qamil Teliti“, sagt ein Zeitzeuge. „Als er das Tor geschossen hat, gab es im Stadion eine Euphorie und Begeisterung, als würde das komplette Stadion brennen.“ Albaniens Mannschaftskapitän war damals Loro Boriçi, nach dem heute das Stadion in Shkodra benannt und der so etwas wie der „Fritz Walter Albaniens“ ist. Als der Abspann kommt, notiere ich den Namen des Regisseurs. Andi Deçka. Ich will ihn bei meiner Rückkehr nach Tirana suchen gehen.

Die „Balkaniada“ war eine gemeinsame Propaganda-Veranstaltung der kommunistischen Balkanstaaten, um ihre geopolitischen Ziele auch im Sport zu unterstreichen. Der Kalte Krieg hatte begonnen, die Beschlüsse der Konferenz von Jalta, auf der die Alliierten im Februar 1945 die Neuordnung Europas festgelegt hatten, wurden umgesetzt. Mitten in Europa entstand ein Eiserner Vorhang. Für Albanien war das Turnier ein historisches Ereignis. Zum ersten Mal konnte das Wappen der Volksrepublik gezeigt werden! Das Nationalstadion in Tirana, dessen Bau 1938 mit italienischer Hilfe begonnen hatte, war pünktlich zum Turnierstart am 7. Oktober 1946 fertiggestellt worden und konnte mit dem Bruderduell gegen Jugoslawien (2:3) eröffnet werden. Dass ausgerechnet das kleinste der vier sozialistischen Balkanländer (neben Jugoslawien und Albanien noch Bulgarien und Rumänien) Gastgeber war, verdankte man Hoxhas damaligem Förderer Tito. Albaniens Trainer war der von Belgrad entsandte Ljubiša Broćić, der später noch für Juventus Turin und den FC Barcelona arbeiten sollte. Organisiert wurde das Turnier vom 21-jährigen Ramiz Alia, Sekretär der albanischen Jugendorganisation und später zweiter Mann nach Enver Hoxha bzw. nach dessen Tod 1985 sogar sein Nachfolger. Noch umgab den Alltag in Albanien eine gewisse Leichtigkeit und Freiheit. Erst als Hoxha 1948 mit Jugoslawien brach, war es damit vorbei. Mit Dodë Tahiri, Giacomino Poselli und Bahri Kavaja gerieten anschließend auch drei Akteure der Siegerelf von 1946 in Ungnade, musste der jugoslawische Trainer Broćić das Land verlassen.

Übergangslos flimmert die nächste Fußball-Doku über den Bildschirm. Sie handelt vom legendären 0:0 Albaniens gegen die DFB-Auswahl 1967 in der EM-Qualifikation. Das Hinspiel acht Monate zuvor hatte Deutschland 6:0 gewonnen. Ich sehe den jungen Helmut Schön, wie er über den Skanderbeg-Platz in Tirana spaziert. Staune über den Rumpelfußball der Vizeweltmeister von 1966. Sehe eine albanische Auswahl, die unter dem nunmehrigen Nationaltrainer Loro Boriçi ihr wohl legendärstes Spiel abliefert. Für Deutschland ist es die „Schmach von Tirana“, für Albanien der Beginn einer großen Leidenschaft für den Gegner. Im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik stand man fassungslos vor diesem armen und völlig abgeschotteten Land, das die DFB-Auswahl zum bis heute einzigen Mal bereits in der Qualifikation eines großen Fußballturniers scheitern ließ. Jahrzehnte später erinnerte sich Willi Schulz vom Hamburger SV gegenüber „Spiegel online“: „Ab der Landung in Albanien war Schmalhans Küchenmeister. Es gab kein Fleisch, nur Brot und Eier. Die kamen aus einem Eierkombinat. Rührei konnten sie – das gab es morgens, mittags und abends. Später sind wir in sozialistische und kommunistische Länder immer mit unserem eigenen Koch und jeder Menge Lebensmittel gereist.“ Über den Alltag in Tirana sagte er: „Ich erinnere mich, dass wir nur Fahrräder gesehen haben. Damals gab es fast noch keine Autos in Albanien. Viele ärmlich gekleidete Menschen, Frauen mit Ackergerät. Es fühlte sich an wie eine Reise zum Mond.“ Sein Kölner Teamkollege Wolfgang Weber ergänzte: „Das Hotel war das beste am Platz, keine Frage, und trotzdem unglaublich karg. Die Leute waren alle grün gekleidet und trugen diese Chinamützen. Überall lagen Mao-Bibeln herum, im Fernsehen liefen seltsame chinesische Soldatenfilme.“ Zum vorzeitigen EM-Aus hatte das Duo wenig zu sagen. Weber erinnerte sich, dass das Spielfeld „kein Rasen, eher eine Weide“ war, Schulz meinte: „Das Stadion war brechend voll. Die Zuschauer standen fast bis zur Seitenauslinie und haben jeden unser leider zahlreichen Fehlpässe höhnisch beklatscht. Das hat uns durchaus verunsichert.“

Nach dem Schlusspfiff spielten sich ergreifende Szenen ab. Die Albaner jubelten, als hätten sie den WM-Titel gewonnen. Ein torloses Unentschieden gegen den Vizeweltmeister war mehr, als sich jeder Auswahlspieler erträumt hatte. Einzig Panajot Pano, damals so etwas wie Albaniens Gerd Müller, war traurig, dass nicht noch mehr herausgesprungen war: „Zwei große Chancen hatte ich gegen die deutsche Abwehr. Pech, dass sie zu keinem Tor führten! Aber ich glaube, auch beim Vizeweltmeister hat man eingesehen, dass es nicht leicht ist, in Albanien zu gewinnen.“ Tatsächlich hatte den deutschen Fans der Atem gestockt, als Torwart Horst Wolter in einer Situation einen Schuss von der rechten Seite nur mit Glück zu fassen bekam. Aufgeregt reklamierten die Albaner, der Ball sei hinter der Linie gewesen, was die TV-Bilder durchaus bestätigen. Sehen konnte man das Spiel in der Bundesrepublik übrigens nur als Zusammenfassung am Montagabend zwischen 23.35 und 0.20 Uhr. Das war vielleicht ganz gut so, denn wie Bundestrainer Helmut Schön resümierte: „Alles ist recht unglücklich gelaufen.“

Die Arroganz, mit der man in der Bundesrepublik in die entscheidende Partie gegangen war, ist verblüffend. „Mit einem Sieg in Tirana sind wir unter den letzten acht dieser Europameisterschaft – jedes andere Ergebnis (Remis oder Niederlage) bedeutet das Aus für den Vizeweltmeister Deutschland“, hatte das „Sport-Magazin“ im Vorfeld doziert. Drei Wochen zuvor hatte das DFB-Team mit 0:1 in Rumänien verloren, war Bundestrainer Helmut Schön erstmals seit seinem Amtsantritt 1964 ernsthaft in die Kritik geraten. „Aber es geht in Tirana um mehr: um deutsches Fußballansehen“, hieß es weiter. „Wir dürfen nicht bloß 1:0 oder 3:2 gewinnen, wir müssen klar gewinnen und spielerisch überzeugen. (…) Helmut Schön hat noch nie einen Gegner leicht genommen. Bei ihm ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Was uns natürlich nicht hindert, Albanien als drittklassig einzustufen, gegen das alles andere als ein klarer Erfolg eine Sensation ist.“ Nach dem Spiel gab es eine harsche Abrechnung mit dem Team, ließ man auch das verletzungsbedingte Fehlen von Beckenbauer und Seeler nicht als Entschuldigung gelten. Im „Sport-Magazin“ („Gigantentöter Albanien“) kommentierte G. Rackow: „Beckenbauer hin, Seeler her, es ist doch einfach lachhaft, dass im deutschen Fußball kein Team zu bauen ist, das auch nach dem Ausfall von einigen Stammkräften sich im Fußball-Entwicklungsland Albanien behaupten könnte.“ „Bild“ formulierte es populistischer und forderte knackig: „Lasst doch mal den Merkel ran!“ Max Merkel stand mit dem 1. FC Nürnberg gerade auf Platz eins der Bundesliga.

„Sport-Magazin“-Chefredakteur Richard Kirn präsentierte derweil jenes Bild, das man in Deutschland damals von Albanien hatte: „Ich kann mir unter Albanien nichts vorstellen, und wenn ich Tirana höre, sehe ich immer nur jenes Foto vor mir, das man uns seit vielen Jahren zeigt: einen riesigen Marktplatz, das weiße Parlamentsgebäude mit den Fenstern, die so tot in der Sonne liegen, dazu der eine Polizist, der den Verkehr regeln würde, wenn es einen gäbe! Es gibt aber nur ein einzelnes Automobil, das unbeweglich in der Hitze verharrt. Ich weiß schon, so kann es eigentlich gar nicht sein, Menschen wird’s wohl auch geben, wo kämen denn sonst die 25.000 im Stadion her, aber so ein Foto prägt sich ein, bis man schließlich glaubt, es sei immer derselbe Polizist, und immer dasselbe Taxi, das auf jemanden wartet, der nicht kommt.“

Im Nachgang wird das Spiel von einer ungewöhnlichen Geschichte begleitet. Gerd Müller, der damals 21-jährige angehende „Bomber der Nation“, soll im einst von den Italienern erbauten Luxushotel „Hotel Dajti“ eine aufregende Nacht mit einer Angestellten verbracht haben. Die junge Frau, deren Name mit „Hojna“ überliefert ist, konnte jedoch nie ausfindig gemacht werden, und so ranken sich allerlei Gerüchte, aber keinerlei Belege um das angebliche Techtelmechtel zwischen dem deutschen Torjäger, der beim 0:0 unerwartet von Bundestrainer Schön auf die Bank gesetzt worden war, und einer albanischen Hotelangestellten. Im Grunde ist es ohnehin unvorstellbar. Albanien war 1967 ein Land voller Furcht vor der brutalen Geheimpolizei Sigurimi. Denunzierungen waren an der Tagesordnung, und die DFB-Auswahl dürfte pausenlos umringt gewesen sein von Spitzeln der Sigurimi. Sich unter diesen Umständen eine verbotene Nacht mit einem Fußballer aus dem Westen vorzustellen, fällt schwer. Zumal Kontakt zu Westlern lebensgefährlich war, denn es drohten die Verschleppung ins Arbeitslager und Kollektivstrafe für die gesamte Familie.

Als die DFB-Auswahl vier Jahre später in der EM-Qualifikation erneut nach Tirana musste und abermals im „Dajti“ abstieg, war Müller wieder dabei. Dass das Spiel drei Tage nach Valentinstag stattfand, mag als Wink der Romantik gedeutet werden. Müller spielte diesmal und schoss sogar das Tor des Tages beim mühsamen 1:0 der DFB-Auswahl. Danach soll der „Bomber“ auf weitere Begegnungen gegen albanische Teams gehofft haben, denn Touristen-Visa für Individualreisende gab es nicht. Vergeblich. Als es 1981 in der WM-Qualifikation endlich so weit war, hatte sich Müller bereits in den Fußball-Ruhestand verabschiedet.

Vier Jahre später soll er dem finnischen Pokalsieger HJK Helsinki einen Brief geschrieben haben, in dem er bat, für einen Tag unter Kontrakt genommen zu werden, um mit der Mannschaft zum Europapokalspiel nach Albanien zu fliegen. „I want to see my girlfriend“, soll Müller den erstaunten Finnen geschrieben haben. Helsinki wies die Bitte zurück, und so hat der Nationalstürmer, sofern die ganze Geschichte auch nur einen Hauch von Wahrheit enthält, die geheimnisvolle Hojna vermutlich nie wiedergesehen. Dass die Geschichte der möglichen heimlichen Romanze bekannt wurde, ist der finnischen Zeitung „Italethi“ zu verdanken, die 1985 darüber berichtete. Müller-Biograf Hans Woller erwähnt sie in seinem preisgekrönten Buch „Gerd Müller oder Wie das große Geld in den Fußball kam“ nicht.

In Albanien ist Gerd Müller bis heute eine Legende. In der Hafenstadt Durrës gab es sogar einen „Gerd-Müller-Fan-Club“, der sich der deutschen Nationalmannschaft und dem FC Bayern München verschrieben hatte. 1997 besuchte „Sport-Bild“ vor dem wegen der bürgerkriegsähnlichen Zustände nach Granada verlegten WM-Qualifikationsspiel Albaniens gegen Deutschland den damaligen Vorsitzenden Maxhuni Nazuni. 320 Mitglieder hatte der Fan-Club seinerzeit. Nazuni habe Helmut Schön und Gerd Müller 1971 am Rande der EM-Qualifikationspartie in Tirana kennengelernt, heißt es: „20 Minuten haben sie mit uns gesprochen,“ wird Nazuni zitiert. Im Juni 2001 berichtete die „Frankfurter Allgemeine“ erneut vom „Gerd-Müller-Fan-Club“, der zum Flughafen nach Tirana gekommen war, um die deutsche Nationalmannschaft vor einem WM-Qualifikationsspiel zu empfangen. „Herzlich Willkommen, liebe Freunde“, steht auf einem Plakat, das von jungen Mädchen und Jungen in die Kamera gehalten wird. Mittendrin DFB-Boss Gerhard Mayer-Vorfelder, der sich artig bedankt. Alles wirkt etwas inszeniert, und über die Hintergründe ist wenig bekannt. Von einem „Gerd-Müller-Fan-Club“ weiß heute niemand mehr in Albanien. Er scheint einfach verschwunden zu sein. So wie der „Bomber der Nation“ aus gesundheitlichen Gründen von der öffentlichen Bühne.

Das 2001er-Spiel zeigt nebenbei, wie sehr sich die große Fußballwelt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks verändert hatte. Hier die umschwärmten Reichen aus Deutschland, England, Spanien, Italien, dort der abgehängte Rest. „Ich habe hier 1983 ein Länderspiel bestritten. Die Albaner haben aus dem Stadion einen Hexenkessel gemacht. Das wird diesmal wieder so werden“, glaubte Teamchef Rudi Völler in der „FAZ“ und ahnte: „Die Albaner werden sich bis zur Erschöpfung ausgeben. Nur wenn wir dagegenhalten, können wir ein positives Resultat herausholen.“ Dem widersprach DFB-Pressesprecher Wolfgang Niersbach, der nüchtern feststellte: „Die Spieler wollen in den Urlaub. Der Trip nach Tirana löst null Interesse aus. Für die meisten Spieler ist es lediglich die letzte, unvermeidliche von rund 35 Dienstreisen in der auslaufenden Saison. Direkt nach Spielende wird das Team und der Begleitertross zum Flughafen hetzen, um auf dem Rhein-Main-Airport in Frankfurt/Main noch vor dem Nachtlandeverbot aufsetzen zu können.“


Deutschland gewann 2:0. Der Urlaub konnte beginnen. 

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