Albaniens jüngere Geschichte ist einzigartig. Zwischen 1944 und 1990 war das Land so etwas wie das heutige Nordkorea: Hermetisch abgeschottet, unter der Knute eines brutalen Stalinverehrers und wirtschaftlich komplett ausgeblutet.
Das Regime baute lieber Minibunker entlang der Landesgrenze als die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu sichern. Enver Hoxha, Albaniens mächtigster Mann jener Zeit, hatte ursprünglich durchaus Gutes im Sinn, ging bei der Umsetzung seiner Ideen aber rücksichtslos brutal vor und nahm sein Volk schließlich mit einer allgegenwärtigen Geheimpolizei "Sigurimi" regelrecht in Geiselhaft .
Einer der wenigen Räume, die den Albanerinnen und Albanern zum halbwegs freien Austausch blieben, waren die Fußballstadien. In meinem Buch "Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien" erzähle ich die ganze Geschichte, denn auf meiner Reise bin ich zahlreichen Menschen begegnet, die mir von damals erzählten und deutlich machten, welch immense Rolle der Fußball im Alltag spielte.
Und so passt es, dass die Revolution 1990/91 ihren Ausgang im Fußballstadion nahm - in dem des damaligen KS Besa Kavaja, Heimatklub des späteren Bundesligaprofis Altin Rraklli. Nachstehend ein Auszug aus dem Buchkapitel "Lasst uns die Treppen des Stadions mit unserem Blut waschen"
"Lasst uns die Treppen des Stadions mit unserem Blut waschen"
Kavaja ist eine alte Handelsstadt, die zu osmanischen Zeiten Bedeutung hatte. Unter den Sozialisten verwandelte sie sich in eine Industriestadt und zum Zentrum der regionalen Landwirtschaft. Viele historische Gebäude wurden abgerissen; die Stadt verlor ihr liebliches Antlitz. Heute ist sie ein schnödes Provinznest mit wenig Atmosphäre. Dave Twydell schrieb 1988 in seinem Reisebericht: „Es ist zweifelhaft, ob es in Albanien einen Ort gibt, der noch depressiver aussieht. Jedes Land hat seine Industriestädte, und Albanien hat Kavaja, ein Zentrum der Glasmanufaktur, in dem es auch eine Teppich- und eine Papierfabrik gibt. Die Straße in die Stadt hinein versucht gar nicht erst, diese optischen Mängel zu verbergen.“
Daran hat sich 30 Jahre später nicht viel geändert. Kavaja kommt erschreckend ernüchternd daher. Staubig, farblos, leblos. Entlang der Straße zum Stadion ist ein Markt aufgebaut. Die Früchte der Region werden feilgeboten. Es ist wenig los, in der Luft liegt ein eigentümliches Schweigen. Kritisch werde ich in meinem bunten Lycra-Jersey gemustert. Touristen verirren sich selten nach Kavaja. Seit der Revolution hat die Stadt rund 25 Prozent ihrer Einwohner verloren und kommt aktuell noch auf etwa 20.000.
Mit ihrer Biografie ist Kavaja wie geschaffen für die Rolle einer Fußballhochburg. Der lokale Klub reicht zurück bis ins Jahr 1925 und nennt sich KS Besa. Wörtlich „Ehre“, ist „Besa“ ein Schwur, der in dem uralten „Kanun“-Gesetz eine zentrale Rolle einnimmt. Er darf unter keinen Umständen gebrochen werden. Auch bei der Befriedigung von Blutrache spielt „Besa“ eine zentrale Rolle – als Waffenstillstand bzw. Sicherheitsgarantie, die, einmal vereinbart, nicht verletzt werden darf. 1933 erreichten die Schwarz-Gelben erstmals die Nationalliga und stellten 1946 mit Qamil Telti jenen Stürmer, der beim 1:0-Sieg Albaniens im Balkanpokalendspiel gegen Rumänien das goldene Tor schoss und dem Land seine einzige internationale Trophäe bescherte. Ende der 1980er Jahre stand eine spielstarke Mannschaft bereit, zu der ein kleiner Flügelflitzer namens Altin Rraklli gehörte. Er war Teil einer Generation, die 1987 das Viertelfinale der U21-EM erreichte. 1992 holte der SC Freiburg ihn nach Deutschland, wurde Rraklli erster Albaner in der Bundesliga.
Dass er wechseln konnte hatte einiges mit Kavaja zu tun, denn in den ausklingenden 1980er Jahren gehörte die Industriestadt zu den Wiegen einer Protestbewegung mit Revolutionspotenzial. Im Sommer 1988 gab es die ersten zaghaften Anzeichen, als Industriearbeiter in Kavaja wegen der unzumutbaren Arbeitsbedingungen in Streik traten. Nachdem 1989 in der DDR die Mauer gefallen war und sich auch in Rumänien das Volk erhoben hatte, schwappte der Revolutionsmut schließlich vollends nach Albanien. Im Februar 1990 drangen mit Çezar Petja und Gezim Çelhyka zwei mutige Männer in die Schule von Kavaja ein und schrieben regierungsfeindliche Parolen an die Wände: „Nieder mit der Diktatur“ und „Enver – Hitler“. Damit sie sich nicht verrieten, benutzten sie ihre linken Hände. Es kam zu Verhaftungen, doch das Duo blieb unentdeckt.
Der nach der Revolution eine Zeitlang in Albanien lebende US-Amerikaner Fred C. Abrahams hat in seinem Buch „Modern Albania“ rekonstruiert, wie der Protest zum Fußballklub Besa gelangte. Am 25. März 1990 gastierte Armeeklub Partizani in Kavaja. Für Çezar und Gezim eine günstige Gelegenheit, ihren Protest in die Öffentlichkeit zu tragen. Gemeinsam mit einem Freund verfassten sie ein handschriftliches Flugblatt und kopierten es notdürftig mit Hilfe von Säure und einer Lampe. Darauf stand: „Wir rufen alle auf, die überzeugt sind, dass unsere kommunistische Propaganda von Kopf bis Fuß eine Täuschung ist. Versammeln wir uns mit unseren vereinten, energischen Stimmen beim Spiel am 25. März Partizani gegen Besa und heben in der 80. Minute des Spiels unsere Finger, während wir laut und ohne Pause rufen: „Freiheit, Demokratie“ (…) Lasst uns die Treppen des Stadions mit unserem Blut waschen.“
So einen offenen Protest hatte es noch nie gegeben im stalinistischen Albanien. Am Spieltag sah man viele nervöse Zuschauer im Stadion. Die Geheimpolizei hatte inzwischen von der geplanten Aktion erfahren und war bereit. Abrahams, der einen der drei Initiatoren später befragen konnte: „In der 80. Spielminute zog ein Zuschauer eines der Bücher von Enver Hoxha aus seinem Mantel. Er streckte den Arm aus, erinnerte sich aber daran, dass auf der ersten Seite des Buches sein Name mit Kugelschreiber geschrieben war. Er riss die Seite heraus und schleuderte das Buch auf das Spielfeld. Ein Polizist huschte zwischen die Spieler und hob es auf. Als er Hoxhas Namen auf dem roten Einband sah, schob er es unter seine Jacke und rannte vom Feld. Die Sigurimi stürmte auf die Tribüne und nahm zwei Männer fest, während die aufgeregte Menge die Polizei mit Steinen bewarf.“
Im Bericht von Innenminister Simon Stefani heißt es: „Während des Spiels gab es keine Ruhe, aber ein Polizeibeamter erwischte einen Jugendlichen aus Kavaja, der schrie: ‚Kommt Jungs, bereit für die Revolution‘. Einige andere identifizierte Personen riefen: ‚Demokratie, Demokratie‘. Eine Fernsehkamera wurde eingesetzt, um die Beteiligten zu identifizieren.“ Nach dem Schlusspfiff attackierte eine Gruppe von etwa 200 jungen Männern erneut die Polizei.
Tags darauf lud die Polizei Dutzende Einwohner Kavajas zu Handschriftentests vor. Die drei Initiatoren blieben unentdeckt und riefen zu einer Demonstration für den Abend auf. Gegen 19 Uhr, also zur populären Xhiro-Zeit, versammelte sich eine Gruppe Menschen in Kavajas Zentrum und marschierte zur Polizeistation. Als ein Beamter das Gebäude verlassen wollte hagelte es Steine. Anschließend gingen die Demonstranten zum zentralen Platz und riefen Anti-Regierungs-Parolen. Im Bericht der Sigurimi heißt es: „Gegen 19 Uhr schien eine große Menschenmenge in Richtung der Polizei zu kommen, hauptsächlich junge Männer, die skandierten: ‚Befreit unsere Freunde — Freiheit, Demokratie — Lang lebe Ramiz Alia — Nieder mit der Dynastie — Nieder mit der Diktatur — Nieder mit der Volksmacht“. Danach begannen sie, mit Steinen anzugreifen, wodurch einige Fenster des Gebäudes zu Bruch gingen“. Die Lunte zur Revolution war gelegt. Explodieren sollte sie im Sommer 1990, während in Italien die besten Fußballer der Welt um den WM-Titel rangen.
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