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Albanien - das unbekannte Fußball-Land

2019 bin ich durch Albanien geradelt. Das war ein großer Traum, der endlich wahr wurde. Das kleine Balkanland, so lange hermetisch abgeschottet von der Welt, so fußballbegeistert, so mysteriös, hatte mich seit den 1980er Jahren fasziniert.

1997 wollte ich schon einmal hin, doch damals wurden im Zuge einer existenzbedrohenden Finanzkrise Kasernen und Polizeistationen gestürmt, war plötzlich das ganze Land bewaffnet. Da blieb ich dann doch lieber daheim.

2019 hat es dann endlich geklappt, und es wurde eine wunderbare fünfwöchige Rundreise auf dem Fahrrad. Kein einfaches Verkehrsmittel für Albanien, denn dort geht es ständig hoch und runter. Aber wenn man ein bisschen Zeit, Kondition und Durchhaltewillen mitbringt, klappt das schon. Der Lohn ist gigantisch. Albanien ist ein Land, in dem einerseits die Zeit stehengeblieben scheint, denn 40 Jahre Stalinismus haben die Zeit eingefroren. Andererseits ist das Land rasant auf dem Weg in die Gegenwart und Zukunft. Auch wenn letztere sehr unsicher wirkt und es viel Unzufriedenheit und Verwerfungen gibt.

Albaniens Fußballgeschichte ist eine besondere. Bis zur Revolution 1990/91, die übrigens im Fußballstadion von Kavaja ihre Initialzündung hatte, gehörte Fußball zu den wichtigsten Freizeitbeschäftigungen im Land. Das lag auch daran, dass es unter den Stalinisten nicht allzu viele Freizeitmöglichkeiten gab. Nach der Revolution ging es mit dem Vereinsfußball bergab, während die Nationalmannschaft dank Legionäre aus ganz Europa zu den Spitzenteams aufschloss.

2024 ist Albanien zum zweiten Mal nach 2016 bei einem EM-Turnier dabei. Das Land fiebert den Spielen gegen Italien, Kroatien und Spanien entgegen. Es ist eine Hammergruppe, doch wenn man sollte die Mannschaft des brasilianischen Trainers Sylvinho keinesfalls im Vorfeld abschreiben. Ein guter Start am Samstag gegen Italien, und es ist alles drin. zumal ich am Mittwoch in Hamburg mitten im albanischen Block sitzen und Daumen drücken werde.

Auf dieser Plattform wird es bis zum Ausscheiden der albanischen Mannschaft jeden Tag einen kleinen Auszug aus meinem Buch "Onkel Enver, der Fußball und eine Radreise durch Albanien" geben, das im Zeitspiel-Verlag erschienen ist und für 25 Euro inkl.Porto und Verpackung hier geordert werden kann.

Los geht es heute mit dem Startkapitel, also Tag 1 meiner Reise durch Albanien. Viel Spaß bzw. Argëtohu!

 

 


Albanien und ich

„Albania is fucked, I want to leave this country.“

Samuel ist 14 und hat die Schnauze voll. „Hier gibt es nichts, gar nichts. Was soll ich hier? Alles ist kaputt!“ Vater Astrit grinst gequält. Er kennt die Litanei seines Jüngsten. Während er im abgeschotteten Albanien von Enver Hoxha aufwuchs und sich die Freiheit erkämpfen musste, kennt Samuel nur das Albanien der Freiheit. Und das Gefühl, dass er keine Chance hat. Denn „Albania is fucked“.

Zwei Drittel aller Albaner unter 25 Jahren geht es wie Samuel: Sie wollen weg. Albanien, das sind tolle Strände, sagenhafte Bergkulissen, günstiges Leben, reichlich Sonne und spannende Aufbruchsstimmung. Aber auch Korruption, 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, politischer Stillstand und vor allem für gut gebildete junge Leute oft ein Leben jenseits aller Perspektiven. Astrit weiß das. Er würde seine Heimat trotzdem nie verlassen. Nun schüttelt er kaum merklich den Kopf, atmet tief durch und bricht mit einem schwungvollen „Kommt, lasst uns aufbrechen“ das Schweigen. Kurz darauf sitzen wir in seinem vollklimatisierten Auto und brettern hinunter in die Hauptstadt Tirana, in der ich gestern angekommen bin und die sich am frühen Septembernachmittag schon wieder in einen Glutkessel verwandelt hat.

Es war 1971, als ich zum ersten Mal von Albanien hörte. Ich war acht, und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft spielte in Tirana. Wenn ich mir die Presseberichte von damals anschaue, muss es ein aufregendes Abenteuer für die angehenden Europameister um Franz Beckenbauer gewesen sein. Albanien war der skurrile Sonderling im skurrilen Osten. Noch mehr als die Sowjetunion, noch mehr als die DDR, von der Springer-Presse immer in Tüddelchen geschrieben, und allemal mehr als Jugoslawien, wo die Wirtschaftswunderbürger gern zum Urlauben hinfuhren und so manch Fußball-Bundesligist seine Spieler herholte. Ich war zu jung, um die Aufregung über diesen winzigen Landstrich auf dem südlichen Balkan, so groß wie Brandenburg, zu verstehen.

Zehn Jahre später ging die Reise für das DFB-Team erneut nach Tirana. Gespannt hockte ich vor dem Bildschirm. Endlich Bilder aus Albanien! Ich sah Menschen im Publikum, die alle die gleiche Kleidung trugen. Das TV-Farbbild wirkte merkwürdig grau; wie eine Erinnerung an alte Schwarz-Weiß-Zeiten. Das Stadion erzählte von der wuchtigen Uniformität des Ostens und präsentierte Parolen in mir unverständlichen Worten. Inzwischen kannte ich sogar ein paar albanische Vereinsnamen. Luftëtari Gjirokastër war mein Liebling. Aber auch Partizani Tiranë, Naftëtari Qyteti Stalin, 31 Korriku Burrel oder Traktori Lushnjë klangen wie Fußball-Lyrik aus einer fremden Welt. Die lustigen Punkte auf dem „ë“ weckten meine Neugierde. Wie sprach man sie wohl aus?

Meinen ersten direkten Kontakt mit Albanien hatte ich 1985 in London. Da gab es einen stramm linken Buchladen irgendwo in Soho. Und in diesem Laden verkaufte man Anstecknadeln albanischer Fußballvereine. Ich war im Paradies und sackte die aus federleichtem Billigblech gefertigten Kostbarkeiten im Austausch gegen schwere Pfundmünzen ein. Nun hatte ich ein Stück Albanien daheim! Dann las ich von Enver Hoxha, Albaniens Alleinherrscher, den sie liebevoll „Xhaxhi Enver“ – Onkel Enver – nannten. Von seiner Abschottungspolitik, von seinen Brüchen mit Jugoslawien, der Sowjetunion, China, irgendwie allen. Dass fast jeder Albaner seinen eigenen Bunker hat, es aber keine Privatautos gibt. Dass die Menschen karg leben und trotzdem glücklich seien. In den 1980ern war Albanien das heutige Nordkorea. Alle redeten darüber, kaum jemand war je da gewesen. Denn Besuchervisa gab es kaum, und vom Flughafen in Tirana hoben jede Woche nur eine Handvoll Flieger ab.

Als 1989 die Mauern des Ostblocks fielen, blieben die von Albanien stehen. Hoxhas Reich der Bunker schien immun zu sein gegen den Freiheitsgeist der sozialistischen Völker. „Onkel Enver“ war da schon tot, seine einbalsamierte Leiche in einem „Piramida“ genannten Mausoleum in Tiranas Innenstadt aufgebahrt. Als auch Albanien im WM-Sommer 1990 aufbrach, quoll das Volk regelrecht heraus. Die Schiffe nach Italien waren schwarz vor Menschen. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen.

1992/93 schoss Altin Rraklli den SC Freiburg in die Bundesliga und brachte mit seinem Doppel-R und Doppel-L die Kommentatoren der „Sportschau“ zum Stottern. Ein geflüchteter Student aus Rrakllis Heimatstadt Kavaja hatte seiner Freiburger Zimmerwirtin von dem begabten Fußballkünstler erzählt. Die sagte es SC-Präsident Achim Stocker, der den Flügelflitzer nach Freiburg kommen ließ. Trainer Volker Finke war begeistert, und die Bundesliga hatte ihren ersten Albaner. Doch Rrakllis Geschichte endete traurig, denn die Gesundheit spielte nicht mit. Und so blieb er nur eine Episode, die symbolisch steht für Albanien: ganz viel Potenzial, ganz viel Tragik.

In den 1990er Jahren wurde Albanien zum Land im Wandel und Ringen mit sich selbst. 1997 wollte ich mir anschauen, wie es wirklich dort aussieht. Mario Kempes, argentinischer Weltmeister 1978, hatte gerade in Lushnja einen Trainerjob angenommen. „France Football“ brachte eine Reportage darüber, die mich überzeugte: Ich muss nach Albanien! Meine Reiseplanungen waren quasi abgeschlossen, als das Land erst zusammenbrach und dann explodierte. In einem windigen Zinssystem verloren Hunderttausende Albaner sämtliche Ersparnisse. Kempes saß nach einem Spiel in der Umkleidekabine und traute sich nicht raus, weil draußen der bewaffnete Mob tobte. Ich stornierte die Reise. Anschließend rutschte Albanien aus meinem Fokus und stand irgendwann nur noch als nostalgische Karteileiche auf meiner Reiseliste. Ein Skelett vergangener Träume.

Bis zum März 2019. Ein Buchprojekt, das ich als Lektor betreute, behandelte Ex-Jugoslawien und die dortige Fußball-Fankultur. Die Autoren luden mich ein, zur Recherche nach Montenegro mitzukommen. Als ich auf die Karte guckte, sah ich Albanien. Plötzlich sprang dieser uralte Traum wieder an. Die Detailplanung lief dann nicht mehr ganz so glatt, denn der Plan, vom montenegrinischen Podgorica nach Albanien zu radeln, ließ sich nicht realisieren. Am Ende flog ich direkt – und nur – nach Albanien.

Am 5. September 2019 traf ich in Tirana ein. Vor mir lagen vier Wochen, in denen ich radelnd das Land durchstreifen wollte. Menschen treffen, mir Geschichten und Geschichte erzählen lassen, checken, wie das wirklich so ist mit den Streunerhunden, die jeden Radler angeblich in die Flucht treiben. Mein roter Faden: der Fußball. Über ihn bekam ich Kontakte, er war mein Einstieg ins Gespräch. In den 1980er Jahren gingen prozentual zur Gesamteinwohnerzahl nirgendwo in Europa so viele Menschen zum Fußball wie in Albanien. Weit über 7.000 pro Spiel waren es damals – bei knapp drei Millionen Einwohnern. Der Sport wurde von der Politik gefördert und die Mannschaften von den Industriekombinaten finanziert. Am Wochenende trafen sich die Menschen in den Stadien, um Zerstreuung zu finden. Fußball war Alltagsflucht und ein Hauch heile Welt in einer verdammt kaputten Welt.

Albanien war ein perfider Überwachungsstaat mit einer unvergleichlich brutalen Geheimpolizei Sigurimi („Sicherheit“), in dem selbst die Bemerkung, man habe gestern im Dorfladen keinen Käse mehr bekommen, zur Verschleppung ins Arbeitslager führen konnte. Und weil vom Übertritt des Einzelnen stets dessen ganze Familie betroffen war, zog dies oft tragische Kreise.

Die stärkste Waffe des Unterdrückungssystems ist Angst. Sie wird erreicht durch totale Kontrolle. Und kein Regime war besser darin als Albanien. Nirgendwo waren die Menschen gleichgeschalteter, galten selbst winzige Abweichungen vom normativen Verhalten als gefährlich. Die Partei ließ keinerlei Raum für Individualität, verbot jeglichen Privatbesitz, reglementierte selbst den Wechsel des Wohnorts und untersagte Männern das Tragen von langen Haaren oder Bärten. Albanien war ein Volk in Geiselhaft – und die Fußballstadien gehörten zu den wenigen Orten, an denen sich die Menschen zumindest für einen Moment versammeln und frei atmen konnten. Zwar stand auch in den Kurven die Sigurimi mit ihren Agenten, doch in der Masse gab es winzige Möglichkeiten des gemeinsamen Protestes. Und so waren es die Fußballstadien, in denen der zaghaft köchelnde Aufstand des Volkes Ende der 1980er Jahre langsam Betriebstemperatur erreichte.

Gebracht hat es Albaniens Fußball nichts, denn heute ist der über vier Jahrzehnte verhätschelte Stolz von Partei, Volk und Nation kaputt. Sein Alltag heißt Korruption, dubiose Besitzverhältnisse, marode Infrastruktur und bittere Gleichgültigkeit der Blick aus meiner Unterkunft Den Sozialismus in seinem Lauf … Einheimischen, die lieber Bundesliga, Serie A, Primera División oder Premier League gucken. Der Schnitt in der höchsten Liga lag 2018/19 bei 1.283 Zuschauern. Spitzenreiter war Partizani Tiranë mit 2.986, gefolgt von Lokalrivale Tirona mit 2.308; Schlusslicht der FK Kukësi, immerhin Europapokalteilnehmer, der durchschnittlich 633 Zahlende begrüßte, seine Heimspiele allerdings wegen Stadionumbau auch in Tirana austragen musste. 

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