„Das kleine, große Fußball-Land“ lautet der Arbeitstitel meines Buches, das irgendwann 2024 über die Ronn vu Lëtzebuerg erscheinen wird. Das passt in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist Luxemburg wirklich klein, zumindest gemessen am Radius motorisierter Reisender. Wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, sieht die Sache etwas anders aus, denn Luxemburg ist nicht Liechtenstein. Meine erste Etappe hatte rund 60 Kilometer und führte mich nach Mersch, wo ungefähr der Mittelpunkt des Landes liegt. Großes Luxemburg! Klein wiederum ist es bezüglich der informellen Wege. Jeder kennt jeden, und jeder kennt irgendjemanden, der wen kennt, der einem weiterhelfen kann. Da wird dieses große Land plötzlich greifbar klein, begegne ich überall freundlichen und aufgeschlossenen Menschen aller Generationen und auch Kulturen, die mir gerne über ihr Land und seinen Fußball erzählen.
Groß ist das Land auch bezüglich seiner Kulturen. Gestern erzählte mir mein Interviewpartner Jean Noël, einst mit Jeunesse Esch im Europapokal gegen den FC Bayern am Start, dass es in Esch gegenwärtig Einwohner aus rund 160 verschiedenen Ländern gäbe. „Also quasi aus der ganzen Welt“, sagte er grinsend. Durch Eschs Fußgängerzone zu flanieren hat in der Tat etwas sehr internationales, was durch den Sprachenmix unterstrichen wird. Deutsch, Französisch, Italienisch und Portugiesisch sind die häufigsten Sprachen. Getoppt jedoch werden sie von Luxemburgisch (Lëtzebuergisch), das als gemeinsame Klammer dieser bunten Lebensgemeinschaft dient. Eine perfekte Klammer, die Identität schafft und alle Kulturen miteinander verbindet. Und noch dazu eine sehr wohlklingende und beinahe „niedliche“ Sprache, die Sympathie schafft.
Seit fünf Tagen bin ich nun im Land, und abgesehen vom bisweilen etwas rauen Wetter hat es mich mehr als nur willkommen geheißen. Den Samstagabend genoss ich mit meinem langjährigen Freund Arno in der alten Mine Fond de Gras, wo früher malocht wurde und die Menschen heute eine perfekte Sonnenuntergangskulisse suchen. Am Sonntag pendelte ich in Esch zwischen US, ewiges Schlusslicht der Ewigen Tabelle der höchsten Fußball-Liga des Landes, dem CS FOLA, ältester Verein Luxemburgs sowie der AS Jeunesse, Rekordmeister und bis heute trotz aller Erfolg von F91 Dudelange der wohl bekannteste Klub des Landes. Esch ist eben ein perfekter Start für eine Ronn vu Lëtzebuerg!
Montag ging es dann erstmals richtig aufs Rad. Über Hautcharage (einst als Drittligist Europapokalteilnehmer, mit allerdings wenig schmeichelhaftem Ausgang), Käerjeng sowie einem naturnahen Radweg auf einer ehemaligen Bahnstrecke ging es nach Eischen. Eine kleine Gemeinde mit einer großen Fußballgeschichte, an die man sich vor Ort gerne erinnert. Nicht so fröhlich fällt der Blick auf die Gegenwart aus, denn die Fusion mit Nachbar Hobscheid zu Alliance Äischdall hat im einstigen Fußballdorf Eischen dazu geführt, dass das Interesse am Fußball einbrach. Heute entsteht auf dem alten Sportplatz ein Altersheim, vielleicht das symbolischste Bild über den Zustand des Fußballs in Eischen.
Weiter ging es durch das Tal der Schlösser nach Mersch, wo am Abend zuvor der erstmalige Aufstieg in die erste Liga (BGL League) gefeiert wurde. Nachdem der FC Marisca zuvor als Zweitligist schon sensationell das Pokalfinale erreicht hatte. Nun steht man in der sehr angenehmen Gemeinde im Zentrum Luxemburgs vor großen Herausforderungen, denn der Sportplatz mitten im Ort ist genau das: ein Sportplatz. Keine Tribüne, keine Sitzplätze, nicht mal eine Umzäunung. Ich werde nächste Woche nochmal dort hinreisen und mir erzählen lassen, wie das Areal erstligatauglich werden soll.
Aufgrund der Wetterprognose (kalter Nordwind, kühle Temperaturen) hatte ich mich entschlossen, die Weiterreise durch den Norden auf nächste Woch zu verlegen und mich diese Woche um das Minett zu kümmern, den Süden Luxemburgs, wo die Arbeiter aus allen möglichen Ländern früher die rote Erde umpflügten, um dem Land zu Reichtum zu verhelfen. Eine Region wie der Ruhrpott. Triste Industriekulissen, begrünte Abraumhalden und umgepflügte Erde erzählen von der Vergangenheit. Verfall und Wandel von den aktuellen Herausforderungen und moderne Bauten inmitten von Hochofenrelikten von deren erfolgreicher Bewältigung. Diese Zeilen entstehen inmitten des ehemaligen Stahlwerks von Belval, wo ein modernes Zentrum entstanden ist, in dessen Mitte symbolisch zwei alte Hochöfen stehen. Esch war 2022 europäische Kulturhauptstadt, und dafür hat man sich mächtig ins Zeug gelegt. Nun verschmelzen die alte Schwerindustrie, die den Weg zum Massenkonsum gelegt hat, mit den Konsumtempeln der Gegenwart zu einem Bild der Zukunft.
Die Vergangenheit lebt hier und dort weiter, aber auch ihre Zeit scheint geschlagen. Zum Beispiel bei der AS Jeunesse, dessen Stadion wie in England mitten zwischen den alten Arbeiter-Häusern nahe der Rue de la Mine liegt. Ein herrlicher Tempel der Vergangenheit, in dem sich einst der FC Liverpool vor tausenden euphorisierter Fans mit einem 1:1 zufriedengeben musste. Die Gegenwart sieht schwieriger aus. Zwar verbucht Jeunesse immer noch die höchsten Zuschauerzahlen im Land, aber bei meinem Spielbesuch am Sonntag war die 1.000er Marke dann noch schmerzhaft weit entfernt. Dabei machte der neue Meister FC Swift Hesperange seine Aufwartung. Das ist übrigens Luxemburgs aktueller Beitrag zum „modernen Fußball“, denn Flavio Becca, umtriebiger Geschäftsmann und Investor mit kurzer Kaiserslautern-Vergangenheit, hat den Klub seit seinem Abgang von F91 Düdelingen in die neue wirtschaftliche Fußballmacht des Landes verwandelt. Geld spielt auch in Luxemburgs Fußball längst DIE zentrale Rolle.
Der Dienstag führte mich nach Schifflange, Bettembourg und Düdelingen. Schifflange erinnerte im Stadtbild stark an Gelsenkirchen, Düdelingen präsentierte sich als weitere Stadt im Wandel. Das alte ARBED-Gelände wird gerade in die Moderne getrieben, und die „Italienersiedlung“, wo früher die aus Italien angeheuerten Malocher ein neues Zuhause fanden, ist nun Ziel geführter Touristentouren. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen zu Zeitgeschichte – nicht nur in Düdelingen. Im Fußball hatte die Stadt einst gleich drei Teams, wobei Alliance Liebling der Italiener war und seinen Platz direkt an der Mine hatte. Fusionsverein F91, dank Becca-Investoren auch in Europa nennenswert erfolgreich, spielt oberhalb der Mine im Stade Jos Nosbaum, wo einst US zuhause war.
A propos oberhalb: Wer Luxemburg mit dem Rad besichtigen will sollte eine bergtaugliche Schaltung montiert haben. 14 bis 15 Prozent Steigung sind keine Seltenheit, und es geht ständig flott hoch und runter. Der Anstieg zum Campingplatz am Gaalgebierg (Galgenberg) in Esch hat sogar bis zu 20 Prozent und ist ein echter Wadenbeißer, den ich jeden Abend am Ende meiner Exkursion hoch muss. Dass er heute als Ziel des Prologs beim Radsportklassiker „Fleche du Sud“ fungiert, macht mich dann ein bisschen stolz, denn irgendwie ist es ja grade mein „Hausberg“.
Heute Vormittag besuchte ich das Ausbildungszentrum des luxemburgischen Nationalverbandes in Mondercange und ließt mir zeigen, wie das kleine Land auf den Spuren Islands in eine erfolgreiche Fußballzukunft marschiert. Mein Eindruck war sehr positiv, und ich bin mir sicher, dass wir in der Zukunft noch einige Fußball-Überraschungen aus Luxemburg hören werden. Insgesamt fliegen mir die Geschichten von Gestern und Heute nur so zu, und ich habe jetzt schon wunderbares Material für ein Buch, um dieses kleine, große Fußball-Land vorzustellen. Dabei geht die Rundreise doch erst richtig los, stehen noch zahlreiche Ziele und Begegnungen auf meiner Route. Wunderbares Luxemburg!
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Christopher (Donnerstag, 18 Mai 2023 12:41)
Toller Beitrag. Freue mich auf das Buch. Ein kleiner Fehler: Es ist der luxemburgische und nicht der französische Nationalverband in Mondercange oder luxemburgisch Monnerech. Grüße