Ruhrpott quer im Februar

In verrückten Zeiten wie diesen muss man gelegentlich normale Dinge tun. Mit dem Fahrrad über 100 Kilometer quer durch den gesamten Ruhrpott fahren beispielsweise. Im frühen Februar, an dem der Winter noch mit eisigem Nachtfrost klebt und der sich gerade mit dem Vorfrühling kabbelt.

Folgende Ausgangssituation: Ich bin zu einer Veranstaltung in Wesel eingeladen, bei der es im Rahmen einer Ausstellung zur Geschichte des MSV Duisburg um Fußball und Literatur geht. Die Einladung gibt mir die Gelegenheit, alte Fußballfreunde in Duisburg wiederzusehen. Aber mit der Bahn stumpf hin- und dann gleich wieder zurückfahren? Verschenkte Gelegenheit, oder? Also auf die Karte gucken. Auf der östlichen Seite des Ruhrpotts liegt Hamm, wo ebenfalls ein Fußballfreund aus der Vergangenheit lebt. Ein erster Plan formt sich: Anreise nach Duisburg mit dem Zug, Fahrrad mitnehmen und dann irgendwie zurück Richtung Heimat. Eine erste Routenplanung führt über Dortmund. Meine Geburts- und Heimatstadt, in der, wie es der Zufall so will, ebenfalls ein Fußballfreund aus der Vergangenheit lebt!

 

Und so klettere ich am Freitagmorgen bei frischen 2 Grad aber unter vielversprechendem blauen Himmel in Duisburg auf den Sattel und mache mich auf den Weg ins 100 Kilometer entfernte Hamm. Habe ich auch noch nicht gemacht, so eine Megaetappe so früh im Jahr. Noch dazu mitten durch einen dichtbesiedelten Ballungsraum. Wo sich in Sachen Radwege und verkehrsfreie Strecken allerdings viel getan hat. Das Tourismusbüro schickte mit jedenfalls Infomaterial zum Radwegenetz, das Lust auf mehr machte. Statt zugestauter Straßen mit winzigen Radwegen zeigten die Bilder durch Wälder und Flussauen führende Pisten sowie Radschnellwege, auf denen man ordentlich Gummi geben kann. Kann man wirklich weitestgehend auf verkehrsfreien Routen durchs Ruhrgebiet radeln? Ich will es herausfinden.

Ideal wäre der Ruhrtalradweg. Der geht von Duisburg bis Winterberg und verläuft entlang der Ruhr über alte Treidelstrecken, auf denen man zu Hochzeiten des Bergbaus die Kähne auf der Ruhr antrieb. Soll eine echte Traumstrecke sein, liegt für meine Zwecke allerdings zu abseitig und ist zu verschlungen. Mehr als 150 Kilometer wären es gewesen bis Hamm, zu viel für eine Tagesetappe im frühen Februar. Also quer durch! Mülheim, Essen, Bochum, Dortmund, Lünen, Bergkamen, Hamm: 97 Kilometer, 520 Höhenmeter. 73,8 Kilometer Fahrradweg wirft Komoot aus, lediglich 101 Meter Bundesstraße, 6,4 Kilometer Straße und 9,81 Kilometer Nebenstraße. Perfekt für einen Radeltag im frühen Februar!

Der Start in Duisburg ist noch etwas verkehrshektisch, doch als ich nach drei Kilometern hinterm Barbarasee auf einen Radweg einbiege, dimmt der Straßenlärm herunter, umhüllt mich wunderbare Natur. Entlang einer Bahnlinie führt die Naturpiste durch den Wald, leitet mich in Speldorf mitten durch das alte Fußballdorf und bringt mich nach Mülheim, wo ich auf dem "Radschnellweg Rheinische Bahn" (RS1) weiterkurbele. Ein grandioses Stück zeitgemäßer Radel-Infrastruktur, das eines Tages durchgehend bis Hamm gehen soll! Entspannt breit, mit einer zauberhaft glatten Asphaltoberfläche und am Freitagmorgen sogar leichtem Rückenwind. Zu gucken gibt es reichlich. Alte Industrieanlagen, moderne Uni-Gebäude, authentischer Ruhrpottalltag. Eine Bilderreise durch das Geschichtsbuch des Ruhrgebiets, die vom Wandel der Region erzählt. Stolze Bürgerhäuser aus der Gründerzeit, Arbeitersiedlungen aus rotem Backstein, Industriebrachen, umgebaute und modernisierte Großindustriekomplexe. Ruhrpott at its best! Über viele Kilometer fliege ich mit flotten 30 km/h förmlich dahin und kann es kaum fassen, mitten im Ruhrgebiet zu sein. Ein herausragendes Beispiel für die Möglichkeiten einer gelungenen Verkehrswende, die dem Radverkehr Raum einräumt, auf dem flottes und gefahrloses Fortkommen möglich ist. Radreiserevier Ruhrpott! 

Nächste Station: Essen. Aus meiner Schulzeit weiß ich noch, dass die Stadt einst die von ihrer Ausdehnung her größte der Republik war. Der Norden ist düster, geschäftig, von Schwerindustrie geprägt. Der Süden offen, grün und vermögend. Villa Hügel, Stinnes und Krupp lassen grüßen. Bei Schönebeck verlasse ich den Radschnellweg und kurble weiter auf dem Grugaweg durch die grüne Idylle einer Hochburg der Schwerindustrie. Nahezu unterbrechungsfrei geht die Piste am Grugapark und dem Hundertwasserhaus vorbei, passiert Margarethenhausen, Rüttenscheid, Rellinghausen und endet schließlich in Überruhr, wo sich die Ruhr in ihrer ganzen morgendlichen Pracht präsentiert. So ein Bild mitten im Ruhrgebiet? Kaum vorstellbar!

 

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Doch es wird noch besser! Eine kleine Seitenstraße führt hinunter zur Ruhr und in einen ländlichen Raum, den man in Essen nicht vermuten würde. Ein Streichelzoo wirbt für Besucher, es sieht aus, als wäre ich irgendwie im heimischen Eichsfeld unterwegs. Entlang des Flusses kurble ich gemütlich Richtung Bochum und fühl mich wie im Urlaub. Hier und dort sind Erinnerungen an das Zeitalter der Schwerindustrie zu sehen, ebenso häufig aber tauchen Relikte der dörflichen Strukturen auf, die es hier wie überall im Ruhrpott vor der Industriellen Revolution gab. Der damalige Wandel ging derart rasant vonstatten, das das Alte punktuell erhalten blieb und es bis heute möglich ist, kurz mal in die Vor-Vergangenheit abzutauchen. Denn Vergangenheit überlagert sich hier gegenseitig - auch die Industrialisierung hat ja längst Platz gemacht für die Moderne. Meine Kindheitserinnerungen an abgasvollgequalmte Straßen, graue Häuser mit Einfachverglasung und rauchende Schornsteine wird jedenfalls weggewischt von einer Region in Bewegung. So wie in Bochum, wo ich auf das ehemalige Verwaltungsgebäude der Opel-Werke zusteuere, das 1960 auf dem Höhepunkt der Kohlenkrise auf dem Betriebsgelände der Schachtanlage I der Zeche Dannenbaum errichtet wurde. Nun stehen auch vom einst wichtigsten Arbeitgeber der Stadt nur noch Reste, fressen sich überall Bagger in den Boden und machen Platz für eine neue Welt. Wandel in Reinkukltur!

In Laer geht es zurück in die grüne Einsamkeit. Ein altes Zechenhaus trotzt an einer wildbefahrenen Kreuzung dem Verkehr. Wieder werden Kindheitserinnerungen wach. Derartige Häuser aus verwaschenem Backstein pflasterten früher meinen Alltag. Im Volksgarten von Langendreer empfängt mich ein kopfloser Soldat. Das Mahnmal gedenkt den Toten der beiden Weltkriege. Ob der Kopf mit Absicht fehlt oder er Opfer von Vandalismus wurde muss offen bleiben. Ein starkes Symbol ist es allemal, zumal die kopflose Steinplastik einen Stahlhelm in der Hand hält und mit starker Symbolik das Sterben im Kriege darstellt.

Bald erreiche ich Dortmund, meine Geburtsstadt und bis heute emotionale Heimat. Allerdings verbrachte ich meine Kindheit im Norden der Stadt, und dort geht es ungleich rauer zu als hier im Süden. In Kley erzählt dörfliche Idylle von Wohlstand, lockt der uralte "Dorfkrug" zum Frühschoppen. Dazwischen lärmen riesige Autobahnkreuze, während an der TU in Dortmund eine moderne Magnetbahn durch die Luft schwebt und die Studierenden von A nach B bringt. Ein paar hundert Meter radle ich noch hinter der Schallschutzwand der A40, dann spuckt mich der Radweg im Dortmunder Kreuzviertel aus, wo ein Freund schon mit Kaffee und Kuchen wartet.

Etwa 40 Kilometer liegen noch bis zum Ziel in Hamm vor mir, als ich nach der Kaffeepause wieder in den Sattel steige. Meine Heimatstadt Dortmund verwirrt mich mit anstrengender Hektik. Der Ring um die Stadtmitte ist voller Baustellen, und wer immer die Barrieren platziert hat, saß vermutlich noch nie auf einem Fahrrad. Es ist ein anstrengendes Tetris-Spiel, immer wieder aufs neue den Radweg zu suchen und neidische Blicke auf die stinkenden Blechbomben neben mir zu werfen, die auf ihren drei Fahrspuren störungsfrei vorwärtskommen, während ich als Radler alle 20 Meter ausgebremst werde. Die Tücken einer unvollendeten Verkehrswende verstärken sich auf der stadtauswärtsführenden Bornstraße, die einen schmalen Radweg führt, der sich anfühlt wie eine Crosserpiste im Buckelwald. Dortmund, das kannst du besser! Noch ein Abstecher zum Borsigplatz, wo das schwatzgelbe Herz der Stadt schlägt und viele Jugenderinnerungen schlummern, dann geht es weiter Richtung Norden. Ich passiere gewaltige Einkaufs- und Baumärkte. Hier ist alles den Göttern Konsum und Auto gewidmet, bin ich als Radfahrer für mein eigenes Überleben verantwortlich und Feindbild viel zu vieler viel zu tiefgelegter Autopiloten. Nach endlosen Kilometern entlang der Derner Straße darf ich endlich in die ländliche Idylle zurück und kurble zwischen grünen Feldern hinauf nach Lünen. Von dort es auf 20 Kilometern flach, geradeaus und leicht langweilig entlang des Datteln-Hamm-Kanals weiter nach Hamm. 102 Tageskilometer stehen auf meinem Tacho, als ich nach knapp 5 Stunden reiner Fahrzeit und schlappen 540 Höhenmetern das Projekt "Ruhrpott quer im Februar" beende.

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