Fußball und Fußball sind nicht (mehr) eins. Wo spürt man das intensiver als in England, Merseyside?
Vorgestern hab ich mal wieder in Anfield vorbeigeschaut. Mystischer Ground, allerlei Erinnerungen, die meisten gut bis wehmütig. You'll never walk alone auf The Kop, inmitten verrückter Scousers. Lange her. Heute ist Anfield ein Festival der Gigantomie und eine Oase des Konsums in einer Gegend, in der Konsum vor allem "Poundland" und andere Billigketten bedeutet. Anfield 1989, als ich das erste Mal hier war, und Anfield 2022 sind zwei Welten, die nichts miteinander zu verbinden scheint. Damals war der Ground dreckiges wie emotionales Herz mitten im Lebensalltag. Die Kop noch eine Stehtribüne, das gesamte Stadion harmonisch eingebettet in das Ensemble aus runtergerotzten Arbeiterhäusern mit winzigen Hinterhausgärten. Heute berauscht man sich dort am eigenen Mythos, am ewigen YNWA, am Kult - und lässt sich das teuer bezahlen. Der Fanshop geflutet mit allem Erdenklichen und Unerdenklichen - sogar Katzenfutternäpfe sah ich. Die Museumstour eine 23-Pfund-pro-Nase schwere stündliche Touristenabfertigung. Die Aura? Weg. Nur am Mahnmal für die Opfer von Hillsborough ist Anfield noch Anfield.
Mich versetzen diese Begegnungen mit dem Glitzerfußball inzwischen eher in Rage als dass sie mir Sehnsucht schenken. Denn der Vergleich des Wochenlohns eines LFC-Spielers mit dem eines der Bewohners der umliegenden alten Arbeiterhäuser dürfte absurd ausfallen. Ob er im Leben so viel verdient wie ein Spieler pro Monat? Die berühmte auseinandergehende Schere hat in Anfield eine sichtbare geografische (und soziale) Schnittstelle, die ein unüberwindbarer Graben ist. Will ein Anfield-Nachbar Liverpool live sehen, wird ihm oder ihr vermutlich nur ein Besuch im Pub gegenüber bleiben. Fußball wirkt zwar immer noch wie ein Community Ding, denn das Stadion ist mitten in der Community, ist aber nicht mehr zugänglich. Was Bill Shankley wohl dazu sagen würde? Ob Fußball "the people noch happy" macht? Vermutlich ja, trotz allem. Das wurde dann am Sonntag deutlich, als in Manchester das Gipfeltreffen zwischen City und Liverpool anstand und die Kneipen im Stadtzentrum rappelvoll war. Diese Stadt lebt Fußball und liebt ihren Klub, das ist unbestreitbar. Und bei aller Kritik auch unverändert bewegend.
Samstag dann das Kontrastprogramm. Nicht Everton gegen Manchester United stand auf dem Programm, sondern Tranmere Rovers gegen Bristol Rovers. 4. Liga, das Unterhaus der Football League, immerhin das Duell zweier Aufstiegsaspiranten. Und ein Auswärtsspiel für "meine" (Bristol) Rovers, die ich zwei Jahre lang nur via Stream sehen konnte. Der Prenton Park ist ein Stadion, wie es Anfield einst war. Voller verblichener Aura und Charakter, mit vier verschiedenen Tribünen und richtigen Flutlichtmasten. Mitten im Stadtteil und selbstverständlicher Alltagsbestandteil für die Menschen. Ein Klub, zu dem die Leute aus der Nachbarschaft gehen (und meistens nur die). Familien mit Kindern, Männer, die sich noch erinnern, dass man in Birkenhead vor vielen Jahren knapp die alte First Division verpasste, junge Leute, unaufgeregt im Shirt ihres Teams. Tranmere Rovers ist ein echter Community Club aus einem Bezirk, der zu den weniger privilegierten der Gegend gehört. Freundliche Leute, Pubs, in denen Gästefans willkommen sind. Sehr entspannte Atmosphäre, alles bezahlbar und zugänglich. Proper football.
Auch im Stadion. Aus Bristol waren rund 1.500 Leute angereist. Die Stimmung grandios, "Goodnight Irene" verwandelte den Prenton Park in eine Heimspielkulisse. Und doch gab es Momente der tiefen Stille. In der 89. Minute beispielsweise, als Tranmere einen Freistoß an der rechten Strafraumkante bekam und die Gästetribüne kollektiv die Luft anhielt. Jetzt bloß kein Tor mehr kassieren! Erstaunlich, wie greifbar still über 1.500 Menschen sein können. Und dann die erlösenden Spottrufe, als der Ball weit drüberging und die Gästefans ihrem angehaltenem Atem Luft verschafften.
Am Ende stand ein 1:1, das keinem weiterhilft. Für Tranmere, lange Zweiter in der Tabelle, rücken sogar die Play offs langsam aus dem Fokus. Und meine Rovers haben die Chancen auf den direkten Aufstieg nun wohl verspielt. Woraufhin ich meinen Gashead-Kumpels schon mal auftrug, mir für den Fall der Fälle ein Ticket fürs Finale in Wembley zu sichern. Auch wenn Wembley seit dem Umbau zu den gigantomatischen Glitzerfußballstätten gehört und mehr noch wie Anfield von seinem Mythos lebt, der vor allem von der eigenen Erinnerung gespeist wird.
Fußball und seine zwei Seiten. Es war wieder so ein Wochenende, an dem ich sehr glücklich war, mich vor rund 30 Jahren in die Bristol Rovers verliebt zu haben - und nicht in Liverpool. Auch wenn ich mit den Pirates wohl nie einen Blumenpott gewinnen werde und stattdessen im schnöden Alltag der Football League steckenbleibe. Erfolg ist nicht alles. My club, my heart.
Meine Geschichten und Kolumnen aus über 30 Jahren im Fußball: Ohne Fußball ist alles nichts.
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