Es gibt Touren, da ist man froh, sie nie gemacht zu haben. Montagmorgen war ich noch etwas wehmütig, als ich mein kleines Täschchen packte, um mit dem Bus nach Sarajevo zu fahren. Lieber hätte ich auf dem Rad gesessen. Doch wir waren kaum eine halbe Stunde unterwegs und hatten die nördlichen Ausläufer von Mostar hinter uns gelassen, als mir klar wurde, dass das mit der Busfahrt tatsächlich eher eine verdammt gute Idee gewesen war. Stellt Euch eine kleine Landstraße vor. So eine, wo es ziemlich eng wird, wenn sich zwei LKW oder Busse begegnen. Die Straße mändriert lustig, geht kontinuierlich hoch und führt immer wieder durch lange Tunnel. Die meisten unbeleuchtet, stockduster und noch enger als die Straße. In beiden Richtungen ist pausenlos Verkehr unterwegs, darunter viele Laster. So ungefähr sieht die wichtigste (einzige) Nord-Süd-Verbindung zwischen Mostar und Sarajevo aus.
Spätestens als wir an einen Tunnel kamen, der wegen Bauarbeiten einspurig geführt wurde, war klar: das hier ist jenseits der elementaren Sicherheitszone, die für Radfahrer eh schon ziemlich schmal ist. Wäre ich tatsächlich mit dem Rad unterwegs gewesen, hätte ich die Etappe ziemlich wahrscheinlich abgebrochen. Klingt dramatisch, aber rund 120 Kilometer und jede Menge Höhenmeter auf gleich zwei Etappen in diesem lebensgefährlichen Verkehrswahnsinn wären schlicht nicht gegangen. Und so stellte sich plötzlich ziemliche Erleichterung ein, dass ich im Bus saß, zumal Sarajevo als Stadt jetzt auch nicht so irre radfahrfreundich ist und zum wilden Verkehr auch noch Straßenbahnschienen kommen, der wohl tückischste Feind des Radfahrers.
Statt vom Radfahren erzähle ich heute also von Sarajevo. 1.425 Tage war die Stadt vom 4. April 1992 bis zum 29. Februar 1995 belagert. Von serbischen Truppen, deren Führer befohlen hatten: "bombardiert sie solange, bis sie alle verrückt werden". Niemand kam raus, die Versorgung erfolgte per Luftbrücke oder über einen geheimen Tunnel nahe des Flughafens Flughafen. Wer sein Haus verließ, musste damit rechnen, von einem Heckenschützen (Sniper) erwischt zu werden, die überall um die Stadt herum auf Hügeln oder Hochhäusern versteckt waren. Und die auf alles schossen. Egal ob bewaffnet oder unbewaffnet. Egal ob Mann oder Frau, egal ob Kind oder Greis. Selbst Schulen wurden attackiert. Mehr als 11.000 Menschen, darunter 1.600 Kinder, starben. Dazu kommen 56.000 teilweise schwer Verwundete. Wieviele traumatisierte Seelen heute in Sarajevo leben ist nicht bekannt. Es gibt zwei Ausstellungen, die die Geschichte der Belagerung - und der Kriegsverbrechen - erzählen. Sie zeigen auch Dokus aus der Besatzungszeit, die an die Nieren gehen. Die Filme erzählen einerseits vom Kriegsalltag, sie erzählen aber vor allem vom Lebensalltag in der längsten Belagerung der jüngeren Weltgeschichte. Über welche verschlungenen Wege die Menschen unbeschadet in ihre zerschossenen Häuser kamen. Wie sie zu (über)leben versuchten in diesem schrecklichen Gefängnis, in dem im Hintergrund immer irgendwo Granatenfeuer zu hören war. Wie sie an Trinkwasser kamen (es gab nur zwei Möglichkeiten), wie sie ohne Elektrizität lebten, wie sie die kalten Winter überstanden, wie sie Kleingärtem betrieben und die Pflanzen nur im Dunkeln gießen konnten, weil sie im Hellen von den Snipern erwischt worden wären.
Wie sie überlebten und sich nicht geschlagen gaben.
Denn im belagerten Sarajevo gab es Konzert"hallen" in Kellergewölben, Musikkonzerte in sicheren Wohnungen, Tanz- und Sportveranstaltungen, wo immer es möglich war. Wer ins Theater ging, zahlte 1 Mark und erhielt dazu eine Kerze. Die Schulen wurden weiterbetrieben, der Alltag sollte irgendwie "normal" weitergehen. Die Menschen lachten und verliebten sich. Es wurde geheiratet. Und gestorben. Der Hügel gegenüber dem Olympiastadion, Spielstätte des FK Sarajevo, ist ein riesiger Friedhof. Orthodoxe, Katholiken und Muslime fanden dort ihre letzte Ruhe. Immerhin nebeneinander. Wobei es vor allem die muslimische Bevölkerung war, die förmlich zerrieben wurde. Die Sarajevo-Belagerung war ein nicht greifbarer Wahnsinn, der sämtliche "Kriegsregeln" ignorierte. Es war ein Krieg gegen die unbewaffnete Zivilbevölkerung und ein einziges Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Mitten drin die Blauhelme der UN, völlig überfordert mit der Situation und den Eingeschlossenen, die sich vom Westen alliengelassen fühlten. Von uns.
An manchen Straßenkreuzungen fungierten UN-Schutzfahrzeuge wie Pendelfähren. Sie fuhren ständig von einer Straßenseite zur anderen, damit Fußgänger - also Zivilisten! - aus dem Schußfeld der Sniper kamen. In den wenigen noch fahrenden Straßenbahnen saßen UN-Blauhelme an den Fensterplätzen und verhinderten, dass die Zivilisten angegriffen wurden. Sarajevo war ein einziger unfassbarer Wahnsinn. "Welcome to hell", hatten sie an die Häuserwände gemalt.
Doch die Dokus zeigen auch Hoffnung. Kinder, die fröhlich auf Trümmern oder in verlassenen Autowracks spielen. Teenager, die sich hübsch machen; sogar eine Wahl zur "Miss Sarajevo" fand statt. Auf dem Plakat, das die Damen am Ende zeigen, steht "don't let them shoot us". Ich weiß nicht, was mich mehr berührt hat: die unfassbarer Brutalität, mir der die Belagerer über dreieinhalb Jahre vorgingen - oder dieser bewegende Lebenswille der Eingesperrten.
Hier kommen ein paar Links,falls jemand etwas tiefer eintauchen möchte. Aber Obacht, teilweise ist das ziemlich harter Tobak!
Jüngerer Artikel der Frankfurter Rundschau zu Sarajevo heute
Eine BBC-Doku aus dem eingeschlossenen Sarajevo
Kurzer Einblick vom Alltag unter Dauerbeschuss
Langer ARTE-Einblick vom Alltag: The Living and the Dead. 1 Stunde 20 Minuten mit Beklemmungsgarantie
Doku zum Holiday Inn Hotel, Pressezentrum in den Belagerungsjahren.
Eine englischsprachige Doku zu den gesamten Hintergründen des Konflikts
Und irgendwo ist da dann auch die Frage, was ich damals eigentlich gemacht habe, als Sarajevo eingekesselt war. Ein bisschen im Fernsehen zugeguckt, ein bisschen an Olympia 84 gedacht und ziemlich ratlos gewesen vermutlich. Es war nicht der Zweite Weltkrieg aus den Erzählungen unserer Großeltern, es war nicht das ferne Vietnam oder das fremde Afrika, deren Kriege wir ebenfalls im Fernsehen verfolgten. Es war ein Krieg, der direkt vor unserer Nase stattfand. Wir kannten alle irgendwelche Jugoslawen. Duško aus Duisburg zum Beispiel, ein Anstecknadelsammler wie ich. Er war immer Jugoslawe gewesen für mich. Irgendwann fragte ich ihn, was er eigentlich sei. Serbe, Kroate.... Er schaute mich resigniert an und sagte "Jugoslawe, aber das gibt es nicht mehr". Wir alle haben die Ereignisse damals verfolgt und waren im Alltag zugleich mit anderen Dingen beschäftigt. Ich versuchte gerade, mich in England niederzulassen. Und da hatte die Ära Thatcher eine Schneise der Verwüstung ins soziale Miteinander geschlagen. Sarajevo, Jugoslawien, waren weit weg. So weit, wie heute Syrien, Jemen, Afghanistan. Kriege, die wir wie damals achselzuckend registrieren und an die wir uns längst gewöhnt haben. Denkt noch irgendjemand an Aleppo? Es ist der normale Wahnsinn. Irgendwo ist immer Krieg.
Die direkte Konfrontation ändert vieles. Und ich bin ja auch hier, weil ich die Realität sehen und erleben will. Jeder, den ich hier treffe, hat seine oder ihre Geschichte zu erzählen. Sie ist selten schön, aber zugleich von einer gewissen Trotzhaltung geprägt. "Was sollten wir denn machen?", sagte mein Zimmervermieter, als ich ihn auf die kulturelle Kreativität während der Besatzung ansprach. "Aushalten? Nein, dann wären wir wahnsinnig geworden. Also haben wir gelacht. Theater gespielt, Musik gemacht." Tragisch wird es beim Blick in die Gegenwart. Eine Zukunft mit Hoffnung und Entwicklung sieht hier niemand. Wer kann, verlässt das Land. Andere bleiben, weil "es meine Heimat ist". So wie mein Zimmervermieter. Vater Serbe, Mutter Muslima. "Ich bin Bosnier, wir sind alle Bosnier", sagt er, "aber wir nennen uns Kroaten, Serben oder Bosniaken. Das ist verrückt, die Spaltung hört nicht auf. Sie wird von den Eltern an ihre Kinder in die nächste Generation weitergetragen. Der Haß ist überall." Wann es enden wird, frage ich ihn. Er holt Luft, guckt mich mit wegmütigen Augen und sagt "vermutlich niemals. Es geht ja auch schon so lange." Womit er Recht hat, denn die Konflikte haben sich über Jahrhunderte wechselnder Einflüsse von Großmächten entwickelt. Darunter das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn und ein Serbien, das traditionell Russland nahesteht und von der Wiederherstellung eines Großreiches träumt. Unter Tito lebte man zumindest eine Zeitlang in vergleichsweiser Harmonie, die aber nicht zuletzt aufgrund unaufgearbeiteter Gräueltaten zwischen Serben und Kroaten im Zweiten Weltkrieg fragil war.
Sarajevo kommt auch vom äußeren Eindruck ziemlich ziemlich geschichtsträchtig daher. Das alte Basarviertel Baščaršija ist liebevoll renoviert und ein Magnet für die Touristen aus aller Welt, die nach anderthalb Jahren Coronopause allmählich wiederkommen. Sehr zur Erleichterung meines Zimmervemieters, der mehr als ein Jahr nicht vermieten konnte und dem das Geld ausging. Der "moderne" Innenstadtkern enthält viel Bausubstanz aus der Habsburg-Zeit. Teils schön restauriert und buntbemalt, teils in einem undefinierbaren Braungrau, das 40 Jahre Sozialismus hinterlassen haben. Auch an dieser historischen Schnittstelle spielt die Stadt übrigens eine Schlüsselrolle, denn es war in Sarajevo, wo der Erste Weltkrieg mit dem Attentat eines Serbens auf den österreichischen Thronfolger endgültig losgetreten wurde.
Verlässt man das Stadtzentrum, wird es trist. Wohnblöcke mit Einfachverglasung, der stadttypischen Hausfassade mit eingesprenkelten Einschusslöchern und einer Tristesse, die an Resignation grenzt. Jeglicher Glanz ist aus der Farbe der Häuser gewichen, es gibt wenig fröhliches, buntes. Auf dem Weg zum Olypiastadion, Heimat des FK Sarajevo, marschierte ich durch diese Kuisse hindurch und fühlte mit wie in einem 80er Jahre-Film aus dem real existierenden Sozialismus. Auch am Stadion Grbavica von Lokalrivale Zelježničar, am westlichen Eingang von Sarajevo gelegen und während der Belagerung direkt an der Frontllinie, sieht es eher nüchtern aus und erzählt von schwierigen Lebensverhältnissen. Nein, Sarajevo ist keine schöne Stadt.
Aber eine Stadt mit Vibe. Sie ist lebendig, fröhlich, geerdet, pragmatisch statt aufgehübscht und vor allem international. Jeder spricht Englisch, das Stadtbild ist von allerlei Kulturen geprägt. Dabei ist auch Sarajevo, wie Mostar, eine gespaltene Stadt. Der historische Kern ist muslimisch geprägt und wird überwiegend von Bosniaken bewohnt. Gelder kommen aus der Türkei und den arabischen Staaten. Die westlichen Gebiete, längst eine eigene Stadt, gehören zur Republika Srpska und sind überwiegend von bosnischen Serben bewohnt. In Bosnien ist nichts einfach.
Dass es keine Hoffnung gäbe, wies ein Barbesitzer in Mostar übrigens vehement zurück. "Die Leute wollen aufhören. Wir wollen das alles endlich überwinden. Wir wollen eine Zukunft. Aber wir haben eine monströse Verwaltung, die ganz viel Geld verschlingt. Die Politik ist voller Korruption. Und sie hat ein großes Interesse, dass die Spaltung bleibt. Denn sie profitiert davon. Wir einfache Menschen müssen dagegen aufstehen." Zum Abschied gab er mir noch ein Bitte mit. "Wir haben hier viele Touristen in Mostar. Vor allem die aus den wohlhabenden Ländern wie Deutschland haben oft einen sehr ausgeprägten Tunnelblick. Für sie ist Geld der einzige Kompass. Sie haben es, sie können sich alles leisten und erwarten, dass es überall so ist. Sie haben keine Vorstellung davon, dass jemand kein Geld hat. Oder keinen Job. Hier in Bosnien kann man nur erfolgreich sein, wenn man sein eigenes Business aufbaut. Irgendwo angestellt zu sein bringt dich nicht weiter. Das Leben hier ist ganz anders als bei Euch."
2019 bin ich mit dem Fahrrad durch Albanien gefahren und habe mich auf die Suche nach der jüngeren Geschichte des lange völlig abgeschotteten Landes gemacht. Ich traf unsagbar fröhliche und gastfreundliche Menschen, erfuhr von Schicksalen und Hinterlassenschaften eines Steinzeitstalinismus, der ganze Generationen beeinflusste, durchkurbelte ein wunderschönes Land, in dem es verdammt viel hoch und runter geht. Mein roter Faden war der Fußball und seine Geschichte, über die Albanien auch erstaunlich eng mit Deutschland verbunden ist.
Meine Reisebericht über 352 Seiten und mit mehr als 400 Fotos gibt es beim Zeitspiel-Verlag, der es für 25 Euro inkl. Porto und Verpackung gerne direkt ins Haus schickt.
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